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576 Strittig: Seitenabstände beim Überholen - "Erst denken, dann handeln"
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Strittig: Seitenabstand beim Überholen - "Erst denken, dann handeln"
© FahrSchulPraxis - Entnommen aus Ausgabe Oktober/2020, Seite 576
Die Neuregelung des § 5 Absatz 4 der Straßenverkehrs-Ordnung (StVO) mit konkreten Mindestabständen beim Überholen führt zu breitem Unmut. So wurden zum Zeitpunkt der Städte- und Straßenplanung in der Vergangenheit die jetzt vorgeschriebenen Überholseitenabstände verständlicherweise nicht berücksichtigt. Der Jurist Dr. Dieter Müller, unseren Lesern schon aus einem in der FahrSchulPraxis 07/2020 veröffentlichten Interview bekannt, fordert, dass der Verordnungsgeber künftig Neuregelungen mit ihren Folgen im Vorfeld besser durchdenken und deren Praktikabilität durch Feldversuche untermauern sollte.
Bildquelle: Petair/Stock.Adobe.com
FPX Im Zuge der letzten Änderung der Straßenverkehrs-Ordnung wurde auch der § 5 für die Vorschriften zum Überholen geändert. War das notwendig?
Dieter Müller In § 5 Absatz 4 StVO wurde die bisher schon bestehende Pflicht, beim Überholen einen ausreichenden Seitenabstand einzuhalten, für das Überholen mit einem Kraftfahrzeug konkretisiert. Dies war aus Sicherheitsgründen dringend erforderlich, um Fußgänger, Radfahrer und Fahrer von Elektrokleinstfahrzeugen besser als bisher vor seitlichen Kollisionen und Bedrängen zu schützen. Allerdings folgt die neue Regelung nur der bislang geltenden Rechtsprechung, die den Mindestseitenabstand innerorts schon lange bei 1,5 m und außerorts bei mindestens 2 m verortet hat. Die drei genannten Gruppen sind nun einmal ungeschützte Verkehrsteilnehmer und bedürfen eines besonderen Kollisionsschutzes. Natürlich gilt das seit April auch für jede Fahrschulfahrt.
Der geänderte § 5 Absatz 4 der StVO hat bei zahlreichen Verkehrsteilnehmern zu Ärger geführt. Ist dieser Unmut aus Ihrer Sicht berechtigt?
Den Unmut kann ich nur aus einem Aspekt verstehen. So wird uns nämlich erst jetzt bewusst, dass unsere Städte- und Straßenplanung, die vor vielen Jahrzehnten erfolgte, die starke Zunahme des Radverkehrs schlicht nicht auf dem Schirm hatte. Dadurch sind die Straßenquerschnitte so schmal, dass auf vielen Streckenabschnitten gar nicht mehr überholt werden kann, weil der Überholseitenabstand nicht eingehalten werden kann. Dadurch entsteht ein sogenanntes „faktisches Überholverbot“, d. h., man darf als Kraftfahrzeugführer einen Radfahrer nicht überholen, wenn nicht sichergestellt ist, dass der Seitenabstand eingehalten werden kann. Vielerorts bleibt auch kein Platz für einen Radweg, der breit genug konzipiert ist, damit er der Radwegbenutzungspflicht unterlegt werden kann.
Können Sie Beispiele aus der polizeilichen Erfahrung nennen?
Nicht sinnvoll ist es, wenn Autofahrer viele Hundert Meter mit der gleichen Geschwindigkeit wie ein Radfahrer hinterherfahren müssen, weil das faktische Überholverbot gilt. Da könnte eine ergänzende Regelung eingeführt werden, die Radfahrer dazu verpflichtet, an geeigneter Stelle Platz zu machen, also ganz so wie die Regelung in § 5 Absatz 6 StVO für langsamere Fahrzeuge bei mehreren nachfolgenden Fahrzeugen schon länger gilt. Auch außerorts dürfte es auf sehr schmalen Straßen dieselben Probleme geben.
Hinzu kommt das Sonderproblem, dass auch gegenüber Radfahrern, die sich auf Radfahrstreifen und Schutzstreifen fortbewegen, der Seitenabstand eingehalten werden muss, weil sie sich schließlich auf derselben Ebene bewegen, wenn auch auf Radfahrstreifen auf einem Sonderfahrstreifen. Diese Regelung findet sich allerdings nicht in § 5 Absatz 4 StVO, sondern in der amtlichen Begründung des Verordnungsgebers. Das hätte das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) besser machen können und um der Klarheit Willen auch müssen, indem diese Klarstellung besser in die Anlage zur StVO oder in § 5 Absatz 4 direkt aufgenommen worden wäre. Die Verkehrspolizeiinspektion in Dresden hat die Neuregelung öffentlichkeitswirksam, d. h. unter Einbeziehung der Presse, im Rahmen einer Kontrollaktion auf Dresdens Straßen kontrolliert und zahlreiche Verstöße von Autofahrern festgestellt. Leider ist bei solchen Verstößen nur ein Verwarnungsgeld von 30 Euro vorgesehen. Das beeindruckt keinen Autofahrer und regt ihn zu einer Verhaltensänderung an, weil er genau weiß, dass es nicht genügend Polizeibeamte gibt, um nachhaltig zu kontrollieren.
Denken Sie, dass die Neuregelung des § 5 Absatz 4 StVO, ebenso wie andere geänderte Vorschriften, eventuell wieder revidiert werden muss, um wirklich mehr Sicherheit im Straßenverkehr, jedoch mit Sinn und Verstand, zu gewährleisten?
Nein, das denke ich nicht. Der Verordnungsgeber hätte jedoch die Neuregelung mit ihren Folgen besser durchdenken können und zudem in einem Feldversuch in mehreren Städten und Landkreisen über einen vollen Jahreszeitraum erproben sollen. Ein Verordnungsgeber darf durchaus einmal mutig sein und eine gute Idee schnell durchsetzen, wenn er sich zuvor von Fachleuten intensiv hat beraten lassen.
Sie sprachen von Feldversuchen und einer stärkeren Heranziehung von Fachleuten im Vorfeld von Neuregelungen. Könnten Sie das bitte konkretisieren?
Grundsätzlich halte ich es für sinnvoll, wenn Neuregelungen wie der § 5 Absatz 4 der StVO zwingend evaluiert werden, also nach Ablauf von beispielsweise zwei Jahren auf ihre Wirksamkeit, ihre Stärken und Schwächen von Experten untersucht werden. Das wäre eine moderne Herangehensweise. Leider denkt man im BMVI nicht modern, sondern „anders“. Dabei gehen Neuregelungen wie diese uns alle an. Es gibt nur wenige Rechtsquellen im deutschen Recht, die so direkt auf das Verhalten der Bürger einwirken wie die StVO. Da sollte der Verordnungsgeber (BMVI plus Bundesländer) schon sorgfältiger arbeiten. Das kann man als Bürger und Steuerzahler erwarten.
Für geradezu wirklichkeitsfern halte ich die folgende Situation. Einem Autofahrer kommt außerorts auf einer schmalen Straße ein Radfahrer entgegen. Die Fahrbahn ist nur 4 m breit und der Radfahrer fährt 50 cm vom Fahrbahnrand entfernt. In einem solchen Fall darf der Autofahrer den Radfahrer passieren, obwohl vielleicht nur 50 cm Zwischenraum zwischen Auto und Radfahrer verbleiben. Das hat der Verordnungsgeber schlicht vergessen zu regeln. Eine weitere Zuspitzung ergibt sich innerorts, weil Radfahrer zu parkenden Fahrzeugen selbst einen Seitenabstand von 1 m halten sollten, damit sie nicht in lebensbedrohliche Unfälle wegen plötzlich geöffneter Autotüren verwickelt werden Wo soll dann ein Überholvorgang stattfinden? Das würde nur auf dem Gegenfahrstreifen funktionieren, wenn kein Auto entgegenkommt. Vielfach sind städtische Räume einfach viel zu eng geplant.
Ihr Fazit?
Es gibt noch viel zu tun. Wir können uns nur wünschen, dass das BMVI und der Bundesrat künftig mehr auf Ratschläge von Experten, wie beispielsweise aus dem Deutschen Verkehrssicherheitsrat, der Deutschen Verkehrswacht oder der Fahrlehrerschaft hören und praktische Feldversuche durchführen lassen, ehe Neuregelungen einfach in die Verkehrswelt gesetzt werden!
Herr Professor Müller, vielen Dank für dieses aufklärende Gespräch.
Das Interview führte Isabella Finsterwalder
Professor Dr. Dieter Müller
Hochschullehrer für Straßenverkehrsrecht an der Hochschule der
Sächsischen Polizei (FH) und verkehrsrechtlicher Fachbuchautor (Foto: privat)