8. Internationale Motorradkonferenz: Sicherheitsforschung im Vordergrund

© FahrSchulPraxis - Entnommen aus Ausgabe Dezember/2010, Seite 663

Wer in der Motorradwelt Rang und Namen hat, fand sich wenige Tage vor der Intermot zur diesjährigen Internationalen Motorradkonferenz (4. und 5. Oktober) in Köln ein. Das vorweg: Für die Ausbildung von Motorrad-Fahrschülern war die Veranstaltung nicht unbedingt eine Fundgrube neuer Erkenntnisse. Interessant hingegen waren einige Ergebnisse der aktuellen Sicherheitsforschung von Hochschulen und Industrie.

Medizinische Hochschule Hannover

Alle 13 Stunden stirbt in Deutschland ein Zweiradfahrer. Dabei wurde wiederum deutlich: Bei allen Varianten des Linksabbiegens lauern auf den Zweiradfahrer besondere Gefahren. An ca. 50 Prozent dieser Unfälle sind die Motorradfahrer selbst schuld.

TU Berlin

1980 waren 10,5 Prozent der getöteten Verkehrsteilnehmer Motorradfahrer, 2009 waren es 16,5 Prozent. Die Wahrscheinlichkeit als Motorradfahrer im Straßenverkehr getötet zu werden, ist 12-mal höher als für Autofahrer. Daraus ist unter anderem zu schließen, dass Motorradfahrer besser gegen Aufprall geschützt werden müssen. Die TU Berlin hat erforscht, dass ein Beckengurt und ein Airbag in Verbindung mit einem Nackenschutz, ähnlich wie ihn Fahrer der Formel 1 oder der DTM (Hans-System) tragen, auch Motorradfahrer erfolgreich vor schweren Verletzungen schützen könnte. Wie schon in der Ausgabe 3/2009 auf Seite 150 dieser Zeitschrift berichtet (damals hatte das Dynamic Test Center in der Schweiz die gleichen Forschungsergebnisse erzielt), bleibt die Erkennung des Aufprallwinkels ein bis jetzt noch ungelöstes Problem. Der Gurt muss sich selbstständig lösen, wenn der Aufprall schräg erfolgt. Hier wartet noch viel Arbeit auf die Forscher.

Institut für Zweiradsicherheit (ifz)

Das ifz hatte es sich zur Aufgabe gemacht, den Begriff „Fahrerassistenzsystem“ (FAS) passend für den Bereich des Zweirades zu definieren, weil eine undifferenzierte Übernahme der Begrifflichkeit aus dem Bereich des mehrspurigen Kraftfahrzeugs falsch wäre. Danach sind FAS technische Ausrüstungen, die der Sicherheit und Orientierung des Zweiradfahrers dienen, aber auch solche, die dessen Wohlbefinden fördern (z.B. Griffheizung). Dieser Punkt spielt für Zweiradfahrer eine nicht zu unterschätzende Rolle. Denn ein Zweiradfahrer ist durch Licht, Lärm, Vibrationen, Kälte, Nässe, Wind etc. mental und körperlich wesentlich stärker belastet als der Fahrer in einer geschützten Fahrgastzelle.

TU Darmstadt und Fraunhofer-Institut

Beide Institute befassen sich mit Grundlagenforschung zur Entwicklung von Fahrerassistenzsystemen für Motorräder. So soll über GPS vor möglichen Gefahren (z.B. einer scharfen Kurve, Stau, Baustelle) gewarnt werden. Die Warnungen können dem Fahrer durch Kontrollleuchten, Vibrieren des Sitzes/der Griffe etc. übermittelt werden. Unklar ist noch, inwieweit benutzer- oder motorradspezifische Aspekte berücksichtigt werden können. Fraglich ist ebenso, ob die Systeme den Fahrer nur warnen oder das Motorrad selbsttätig abbremsen sollen.

Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt)

Ein Assistenzsystem bringt nichts, wenn es ausgeschaltet ist oder einfach ignoriert wird. In Versuchen der BASt wurden Motorradfahrer während der Fahrt vor Gefahren gewarnt. So z.B., wenn sich der Fahrer mit zu hoher Geschwindigkeit einer Kurve näherte. Dabei ergab sich u.a., dass die Akzeptanz der Warnung durch vibrierende Handschuhe größer ist als durch Kontrollleuchten. Außerdem muss der Fahrer auch erkennen können, dass es wirklich gefährlich ist.

Dainese 

Der italienische Bekleidungshersteller Dainese hat einen Thorax-Protektor aus einer Aluminiumwabenstruktur entwickelt, der Brustverletzungen bei einem Aufprall mildern soll.

Piaggio/Universität Florenz

Forschungen von Piaggio und der Universität Florenz sind mit der Weiterentwicklung der Bremssysteme von Motorrädern befasst. Während der Rollerhersteller in einem MP3-Versuchsfahrzeug vor allem die Kommunikation zwischen Dämpfung und Bremse untersucht hat, beschäftigte sich die Uni in Florenz damit, eine aktive Bremse zu entwickeln. Das heißt, das Motorrad bremst in einer Notsituation selbstständig ab. Beide Untersuchungen kommen zu dem Schluss, dass Zweiräder mit einer kombinierten Bremse (Vorder- und Hinterrad werden mit einem Hebel gleichzeitig gebremst) in Verbindung mit ABS ausgestattet sein sollten.

TU Darmstadt

Die TU hat in einem Forschungsprojekt herausgefunden, dass 17 Prozent der verunglückten Motorradfahrer in Linkskurven von der Fahrbahn abgekommen sind. In den untersuchten Fällen war die Ursache vor allem sehr starkes Bremsen nach Erschrecken in der Kurve, wobei sich das Motorrad gefährlich aufrichtet, also die für eine sichere Kurvenfahrt notwendige Schräglage verlässt. Dieses Aufrichten des Motorrades, das durch breite Reifen (die in den letzten Jahren stark zugenommen haben), begünstigt wird, soll durch ein System, das den Lenkkopf beweglich macht, minimiert werden.

Continental Teves

Der Bremsenhersteller hat nach den Ursachen von Motorradunfällen geforscht. Dabei stellte sich heraus, dass die Motorradfahrer beim Erschrecken in Gefahrensituationen häufig panisch gebremst haben, wodurch das Vorderrad blockierte. Ungefähr die Hälfte dieser Unfälle hätte durch ABS verhindert werden können. Denn durch Vermeidung des Sturzes wird Zeit gewonnen, die dem Motorradfahrer oft noch ein Ausweichen ermöglicht. Oder aber der Zeitgewinn entschärft die Situation schon alleine deshalb, weil der Gegner in Bewegung bleibt und so dem Gefahrbereich des Motorradfahrers entkommt. Die Ergebnisse bestätigen exakt das, was wir Fahrlehrer seit Jahren, ja Jahrzehnten fordern. 1985 hat Lucas Girling das erste ABS für Motorräder vorgestellt. Heute, im Jahr 2010, gibt es immer noch kein ABS für viele kleine Zweiräder. Auf meine Frage, warum das immer noch so ist, bekam ich nur eine Antwort: Es liege wohl am Preis!

Fludicon

„Elektrorheologische Verstelldämpfer als Grundlage für semiaktive Motorradfahrwerke“ (Rheologie = Teilgebiet der Physik, das Fließerscheinungen von Stoffen unter Einwirkung äußerer Kräfte untersucht, die Red.) lautete der schreckliche Titel des Vortrages des hochinteressanten kleinen deutschen Unternehmens Fludicon. Durch ihren neu entwickelten Dämpfer mit einer Flüssigkeit, die sich in Millisekunden von einem festen (ähnlich wie ein Radiergummi) in einen flüssigen (ähnlich wie Milch) Aggregatzustand wandelt, sollen Pendeln oder Flattern eines Motorrades verhindert oder wenigstens so gemindert werden, dass es ungefährlich ist.

ACEM Belgien (The Motorcycle Industry in Europe)

Dieses europäische Projekt wurde in Barcelona, Rom, Paris und London durchgeführt. Dabei konnten durch versuchsweise „Legalisierung“ mancher eigentlich unzulässiger Verhaltensweisen motorisierter Zweiradfahrer und andere Maßnahmen die Unfallzahlen teilweise erheblich reduziert werden. 

London: Zuerst wurden Überwachungskameras installiert. Sodann wurden Busspuren für Zweiräder geöffnet. Dadurch kam es zu 50 Prozent weniger Zweiradunfällen.

Barcelona: Hier hat die Einführung einer vorgezogenen Haltlinie speziell für Zweiräder für 20 Prozent weniger Zweiradunfälle gesorgt. Durch die flächendeckende Einführung von Tempo-30-Zonen in allen vier Städten nahmen die Unfälle mit Zweirädern um 40 Prozent ab.

Kuratorium für Verkehrssicherheit (KfV) Österreich

In Österreich hat eine Studie aus den USA Aufsehen erregt. Durch in Fahrzeugen fest eingebaute Kameras wurde nachgewiesen, dass in 80 Prozent der mit den Kameras dokumentierten Unfälle die Fahrerin/der Fahrer gerade abgelenkt war und weggeschaut hat. Deshalb wurde ein Versuch gestartet, durch mehrere im Auto installierte Kameras das alltägliche Fahrverhalten zu beobachten. So können jedem Verkehrsteilnehmer dessen Verhaltensweisen gezeigt und Verbesserungsvorschläge unterbreitet werden. Ganz nebenbei hat sich durch diese Methode der Benzinverbrauch um 6 Prozent vermindert. 

Motorradausbildung in USA/Kanada

In Nordamerika herrscht ein völlig anderes Ausbildungssystem als in Deutschland und im übrigen Europa. So ist es in Kanada nach erfolgreicher Ablegung des Sehtests und der theoretischen Prüfung möglich, als “Lerner“ 90 Tage Motorrad zu fahren. Viele machen das jedes Jahr so, vielleicht schon seit 20 oder 30 Jahren. Zudem hat jede Provinz (in den USA jeder Bundesstaat) seine eigenen Vorschriften. Deshalb beruht vieles auf Freiwilligkeit. Ziel ist es deshalb, „neue Motorradfahrer“ vier Stunden in einen Theorieraum und 16 Stunden auf einen Parkplatz zu bekommen, um ihnen die Grundregeln und die Grundfahrtechniken nahezubringen.

Monash University Accident Research Centre in Victoria, Australien

Auch in Australien werden immer mehr Ältere zu Motorradfahrern. Die Anzahl der tödlich verunglückten Motorradfahrer ist zurzeit rückläufig. Die Wiedereinsteiger bilden die Gruppe mit den meisten Unfällen; für diese Gruppe wurden spezielle Schulungsprogramme entwickelt. Dabei soll der Fahrspaß möglichst nicht zu kurz kommen.

Fédération Internationale de Motocyclisme, Schweiz

In den Großstädten der südlichen Länder Europas fahren dank des wärmeren Klimas mehr Zweiräder als z. B. in Deutschland. Darin, so die Fédération, bestehe ein großes Potenzial für umweltfreundliche Mobilität, weshalb dieser Markt in den nächsten Jahren wachsen werde. Die Schweizer Forscher erwarten für Elektro-Zweiräder, Hybrid-Zweiräder, Dieselmotorräder und Bio-Kraftstoffe neue Entwicklungen.

Karl-Heinz Hiller
Motorradreferent