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Ralf Schütze unterwegs für FPX: Wie sicher sind Assistenten und autonomes Fahren?

© FahrSchulPraxis - Entnommen aus Ausgabe November/2017, Seite 710

Die zunehmende Verbreitung von Fahrerassistenzsystemen (FAS) sowie das künftige autonome Fahren wecken Hoffnungen: immer mehr Technik, immer weniger Unfälle und somit weniger Verkehrstote und Verletzte. Die Rechnung klingt logisch, doch geht sie wirklich auf? Eine Bestandsaufnahme des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) bringt interessante Erkenntnisse und Prognosen ans Licht.

Das Tempo, mit dem wir auf das autonome Fahren zusteuern, wirkt manchmal schwindelerregend: Ständig erreichen uns Meldungen über neue Meilensteine auf dem Weg zum völlig selbstständig fahrenden Auto. Bis es so weit ist, nehmen die Anzahl und die Komplexität der verfügbaren Fahrerassistenzsysteme (FAS) laufend zu; die dafür im Fahrzeug genutzten Sensoren und Kameras sind Teilstücke des künftigen autonomen Fahrens. Audi brachte gerade die neueste und vierte Generation seiner Luxus-Limousine A8 auf den Markt – das erste Serienauto mit Systemen nach dem sogenannten „Level 3“ für hochautomatisiertes Fahren (siehe Info unten).

Warten aufs Recht

An sich wäre der Level-3-Staupilot oder „Traffic Jam Pilot” im A8 serienreif. Aber: Bislang dürfen automatisierte Eingriffe laut Gesetz nur bis 10 km/h erfolgen, zum Beispiel für das Einparken. Die EU und 50 weitere Staaten weltweit erarbeiten derzeit neue Regeln für das autonome und automatisierte Fahren. Dann sollen Eingriffe bis 130 km/h möglich sein. Audi rechnet ab Ende 2018, spätestens Anfang 2019 mit dem möglichen Serieneinsatz seines Staupiloten. Der wird dann das Führen des A8 übernehmen, sobald im Stau das gefahrene Tempo unter 60 km/h sinkt und der Fahrer auf der Mittelkonsole den AI-Knopf drückt (für „Artificial Intelligence“). Das System übernimmt nicht nur sämtliche Steuerfunktionen, sondern hält sich auf der linken Autobahnspur sogar näher am linken Fahrbahnrand, um eine Rettungsgasse zu bilden.

Audi A8 mit Level-3-Systemen (Foto: Audi AG)

Der Staupilot gehört zum Level 3: hochautomatisiertes Fahren (Foto: Audi AG)
Spätestens Anfang 2019 soll der Staupilot bei Audi serienmäßig im A8 eingesetzt werden (Foto: Audi AG)

Foto 1: Audi A8 mit Level-3-Systemen (Foto: Audi AG)
Foto 2: Der Staupilot gehört zum Level 3: hochautomatisiertes Fahren (Foto: Audi AG)
Foto 3: Spätestens Anfang 2019 soll der Staupilot bei Audi serienmäßig im A8 eingesetzt werden (Foto: Audi AG)

 

Stark sinkende Unfallzahlen?

Zurück zur Gegenwart: Etwa 90 Prozent aller Verkehrsunfälle gehen auf menschliches Fehlverhalten zurück. Deshalb, so möchte man meinen, müsste sich die Zahl der Unfälle durch Verwendung von immer mehr und immer klügerer Technik deutlich reduzieren lassen. Und künftiges autonomes (oder bis dahin teilautonomes) Fahren müsste ebenfalls positive Effekte auf die Unfallzahlen haben. Doch die Realität wird wohl nicht ganz so rosig aussehen. So jedenfalls eine aktuelle Studie des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV). Demnach werde die neue Technik etwa in den nächsten 20 Jahren nur zu leicht sinkenden Schadensfällen führen. Autofahrer, die zumindest langfristig auf sinkende Versicherungsprämien hoffen, dürften wohl enttäuscht werden.

Computer schlauer als der Mensch?

Die Ansprüche an FAS und vor allem an künftiges autonomes Fahren sind sehr hoch, legt man die menschlichen Fähigkeiten als Maßstab zugrunde: Immerhin rund 3 Mio. Kilometer legt der durchschnittliche Kraftfahrer zurück, ehe er bei einem Unfall eine Person verletzt. Deshalb meint Dr. Bernhard Gause, Mitglied der GDV-Geschäftsführung: „Auch wenn Computer nicht müde werden, nie verärgert oder nervös sind – das Erreichen dieses hohen Sicherheitsniveaus im hochkomplexen Umfeld des Straßenverkehrs muss erst einmal geschafft werden.“ Als Bezugsgröße für ihre Schadensprognosen haben die Versicherer das Jahr 2015 gewählt, als durch Verkehrsunfälle für die deutschen Versicherungsgesellschaften ein Schaden von insgesamt 22 Milliarden Euro entstand. Die Assekuranz geht momentan davon aus, dass dieser Betrag bis 2035 um 7 bis 15 Prozent sinken werde. Die große Bandbreite zwischen beiden Werten kommt daher, dass sich nicht sicher vorhersagen lässt, wie schnell sich neue Technologien verbreiten werden.

Unfallprävention durch FAS

Dass die teils sehr aufwendigen FAS die Schadenshöhe wohl nur um einen einstelligen Prozentsatz sinken lassen werden, hat nach Ansicht der GDV-Experten mehrere Gründe. Zunächst: Bei Weitem nicht alle Schadensfälle lassen sich technisch verhindern. Eine Einparkautomatik verhindert keinen Autodiebstahl, der City-Notbremsassistent schützt nicht vor Naturgewalten wie Hagel oder Steinschlag. Selbst ein aufwendig konstruierter Spurhalteassistent nützt nichts, wenn ein Passagier unachtsam die Fahrzeugtür öffnet und so einen kapitalen Schaden verursacht. Die Versicherer nehmen an, dass sich mit den FAS im optimalen Fall 56 Prozent der Haftpflichtfälle und 27 Prozent der Kasko-Schäden vermeiden lassen. Während bei den Haftpflichtpolicen der Notbremsassistent mit einem Minus von 28 Prozent besonders viele Schäden vermeiden kann, ist es bei den Kaskoversicherungen vor allem der Park- und Rangierassistent, der dazu führt, dass die verursachten Schäden um bis zu 16 Prozent sinken könnten.

Quelle: GDV

 

Idealwerte

Doch auch diese Werte sind nur im theoretischen Idealfall erreichbar. Denn selbst wenn das Auto mit den neuesten Fahrerassistenzsystemen ausgestattet ist, heißt das nicht, dass die Piloten sie auch jederzeit aktivieren und somit deren Potenzial ausschöpfen. Außerdem werde es laut GDV viele Jahre dauern, bis sich die verfügbaren neuen Technologien wesentlich im Fahrzeugbestand durchsetzen. Wie viele Jahre man dafür einplanen müsse, sei unklar. Die Experten konnten sich bei ihren Vorhersagen an früheren Innovationen und deren Durchsetzungstempo orientieren. So entwickelten sie zwei Szenarien: Das langsame orientiert sich an der Verbreitung des ABS-Systems, das nach 20 Jahren lediglich in 40 Prozent aller Fahrzeuge eingebaut war. Im besten Fall könnte es so schnell wie beim ESP gehen, das 20 Jahre nach seiner Entwicklung immerhin in 80 Prozent der Fahrzeuge verfügbar war.

Im Einzelnen teurer

Dr. Bernhard Gause - Mitglied Geschäftsführung GDV (Foto: GDV)Dr. Bernhard Gause - Mitglied Geschäftsführung GDV (Foto: GDV)

Selbst wenn es mit der Verbreitung von FAS so rasch vorangeht, macht sich gleichzeitig ein gegenläufiger Effekt negativ bemerkbar: Zwar geht die Zahl der Unfälle zurück, aber der einzelne Schadensfall wird teurer. Denn dabei werden zunehmend auch Sensoren und Kameras der komplexen FAS beschädigt, die aufwendig repariert oder sogar komplett erneuert und neu kalibriert werden müssen. So verteuere sich laut GDV zum Beispiel der Austausch einer Windschutzscheibe wegen diverser FAS um bis zu einem Drittel. „Die neuen Systeme machen das Autofahren zwar sicherer, sie verbreiten sich im Fahrzeugbestand aber nur langsam und machen Reparaturen im Schadensfall teurer“, fasst Dr. Bernhard Gause zusammen. Und ergänzt: „Auf absehbare Zeit hat der technologische Fortschritt also nur geringen Einfluss auf das Schadensgeschehen.“ Nimmt man beide Effekte – geringere Unfallzahlen, aber steigende Kosten pro Unfall – zusammen, bleibt am Ende lediglich eine geschätzte Reduzierung der Kosten um 6,9 bis 15,2 Prozent. Die größeren Einsparungen fallen bei der Haftpflichtversicherung an, bei der sich die Schäden um 9,3 bis 20 Prozent verringern. Bei den Kaskoversicherungen liegt der Effekt sogar nur bei einem Minus von 2,8 bis 7,3 Prozent. Nicht beziffern können die GDV-Experten derzeit einen zu erwartenden negativen Effekt des künftigen automatisierten bis vollautonomen Fahrens: Zusätzliche Risiken entstehen durch die Mischung von automatisierten und konventionellen Autos. Autonome Fahrzeuge halten sich strikt an Regeln, z.B. Tempolimits und Überholverbote, was auf viele Autofahrer nicht zutrifft.

Welche FAS mindern Schäden?

Die Versicherer haben auch untersucht, welche der aktuell verfügbaren FAS derzeit die Schäden erheblich senken. Am stärksten wirke sich demnach der Einbau von Park- und Rangierassistenten aus: Allein durch diese Systeme sinken die Kosten für Haftpflichtpolicen um 4,9 bis 10,4 Prozent, für Kaskoversicherungen immerhin noch um 3,7 bis 7,9 Prozent. Knapp dahinter liegt der Notbremsassistent. Überraschend gering fallen die Effekte der sogenannten Autobahnpiloten und der Spurhaltesysteme aus: Die Kosten sinken laut der Studie jeweils um weniger als ein Prozent. Aber für die Fahrer bringen sie ein Plus an Komfort. Und wenn die Systeme funktionieren, erzeugen sie noch einen deutlich wichtigeren Effekt als eine reine Einsparung bei den Schadenskosten: Die sinkenden Unfallzahlen bedeuten auf jeden Fall auch weniger Tote und Verletzte im Straßenverkehr.

Bilanz

Das Fazit von Dr. Bernhard Gause fällt teils ernüchternd, teils aufmunternd aus. Einerseits weist er zu hohe Erwartungen an die Sicherheit autonomen Fahrens in die Schranken, wenn er zusammenfassend feststellt: „Die Vision vom unfallfreien Fahren dank neuer Technik wird also auf absehbare Zeit eher Wunsch denn Realität sein.“ Andererseits kann Gause Entwarnung geben in Bezug auf Befürchtungen, die herrschende – und bewährte – Halterhaftung müsse im Zuge des autonomen Fahrens vielleicht einer Produkthaftung weichen. Laut Gause sei letztere weder gemacht noch geeignet für die effiziente Entschädigung von Verkehrsopfern. Denn: „In jedem Einzelfall müsste dem Hersteller ein Produktfehler gerichtsfest nachgewiesen werden, und selbst dann bestünde eine Haftpflicht nur unter bestimmten Voraussetzungen.“ Im Gegensatz da- zu stellt Gause klar, dass der Schutz der Kfz- Haftpflichtversicherung künftig problemlos auch das automatisierte Fahren umfasse: „Darauf kann sich heute und in Zukunft jeder verlassen, der in Deutschland in einen Unfall verwickelt ist – ganz egal, ob ein menschlicher Fahrer oder ein Computer am Steuer saß.“

Fünf Stufen/Level vom herkömmlichen bis zum autonomen Fahren

Bei allen Unklarheiten und noch offenen Fragen rund ums autonome Fahren der Zukunft: Die Autoindustrie hat sich inzwischen auf ein fünfstufiges System geeinigt, das die verschiedenen Stufen/Level vom herkömmlichen bis zum autonomen Fahren beschreibt:

Level 0 

 

keine Autonomisierung (der Fahrer muss alle Aufgaben selbst übernehmen)

Level 1

 

assistiertes Fahren (Unterstützung des Fahrers z.B. durch Tempomat)

Level 2

 

teilautomatisiertes Fahren (z.B. adaptiver Tempomat, Spurhalteassistent)

Level 3

 

hochautomatisiertes Fahren (z.B. automatisches Überholen, Fahrer kann jederzeit eingreifen)

Level 4

 

vollautomatisiertes Fahren (ein Fahrer ist für spezifische Fahraufgaben nicht erforderlich)

Level 5

 

fahrerlose Autos (vom Start bis ans Ziel ist ein Fahrer nicht erforderlich)