Unfall bei Motorradausbildung - Kundin verklagt Fahrschule

© FahrSchulPraxis - Entnommen aus Ausgabe September/2017, Seite 540

Alptraum jedes Motorradfahrlehrers: Unfall in der Fahrstunde, Fahrschüler verletzt. Die Sorge um baldige Genesung des Schülers wird manchmal von dem Vorwurf überschattet, Grund des Unfalls sei ein Ausbildungsfehler gewesen. In solchen Fällen ist es bis zur Klage auf Schadenersatz oft nicht weit. Dies vorweg: Um Ansprüche erfolgreich abwehren zu können, ist eine am Curricularen Leitfaden ausgerichtete und exakt dokumentierte Ausbildung von entscheidender Bedeutung.

(Bildquelle: ifz)
(Bildquelle: ifz)

Unfall bei Überlandfahrt 

Für einen Kollegen wurde dieser Alptraum bittere Realität. Während einer Überlandfahrt kam die Fahrschülerin von der Fahrbahn ab und prallte gegen einen Baumstumpf. Dabei zog sie sich schwere Verletzungen zu und musste mit dem Notarztwagen ins Krankenhaus gebracht werden. Nachdem die junge Frau wieder einigermaßen hergestellt war, stellten sich bedauerlicherweise bleibende körperliche Beeinträchtigungen heraus. Das nahm die Frau zum Anlass, gerichtlich gegen den Fahrschulinhaber zu klagen. In der Folge hatte die 28. Zivilkammer des Landgerichts Stuttgart zu klären, ob bei der Ausbildung gegen die Regelungen der Fahrschüler-Ausbildungsordnung verstoßen wurde und deshalb der Fahrschülerin ein finanzieller Ausgleich für die erlittenen Schäden zuzusprechen war.

Fahrschüler-Ausbildungsordnung

Die für die Motorradausbildung relevanten Regelungen finden sich in § 5 (Praktischer Unterricht) FahrschAusbO:

(1) Der praktische Unterricht ist auf die theoretische Ausbildung zu beziehen und inhaltlich mit dieser zu verzahnen. Er hat sich an den in den Anlagen 3 bis 6 aufgeführten Inhalten zu orientieren und die praktische Anwendung der Kenntnisse einzubeziehen, die zur Beurteilung der Verkehrs- und Betriebssicherheit des Fahrzeuges erforderlich sind. Er ist systematisch aufzubauen. Der praktische Unterricht besteht aus einer Grundausbildung und besonderen Ausbildungsfahrten. […] Der Fahrlehrer hat den jeweiligen Ausbildungsstand durch Aufzeichnungen zu dokumentieren. Diese sollen erkennen lassen, welche Inhalte behandelt wurden.

(2) Die Grundausbildung soll beim jeweiligen Ersterwerb der Klassen A1 und B möglichst abgeschlossen sein, bevor mit den besonderen Ausbildungsfahrten begonnen wird. Dies gilt auch für den Ersterwerb der Klasse A ohne Vorbesitz der Klasse A2 sowie der Klasse A2 ohne Vorbesitz der Klasse A1. […]

(9) Bei der Ausbildung auf motorisierten Zweirädern hat der Fahrlehrer den Fahrschüler zumindest in der letzten Phase der Grundausbildung und bei den Ausbildungsfahrten nach Anlage 4 überwiegend vorausfahren zu lassen. Dabei ist eine Funkanlage nach § 5 Absatz 2 Satz 1 der Durchführungsverordnung zum Fahrlehrergesetz zu benutzen. […]

(11) Für den praktischen Unterricht ist ein gegliederter Ausbildungsplan aufzustellen. Der Unterricht hat sich nach dem Ausbildungsplan zu richten. […]

Gericht verlangt Ausbildungsunterlagen

Angesichts dieser Rechtslage forderte das Gericht den Fahrschulinhaber auf, seinen Ausbildungsplan und die Aufzeichnungen über den Ausbildungsstand der Schülerin (Ausbildungsdiagrammkarte) vorzulegen.

Ausbildungsverlauf 

In der Verhandlung konnte sich die Fahrschülerin nicht an den Unfall erinnern. Somit konnte sich das Gericht neben der Diagrammkarte nur auf die Aussagen des ausbildenden Fahrlehrers und des ermittelnden Polizeibeamten stützen. Dies führte zu folgenden Erkenntnissen:

  • Die Fahrschülerin hatte keine Motorradvorkenntnisse.
  • Die Grundausbildung begann mit drei Unterrichtseinheiten à 90 Minuten im Schonraum, wobei der Fahrlehrer das Motorrad anfangs selbst zum Übungsplatz und wieder zurückfuhr. Dabei wurden auch sämtliche Grundfahraufgaben geübt.
  • Es folgten zwei 90-Minuten-Blöcke im Realverkehr, bei denen neben der üblichen Ausbildung im Stadtverkehr auch kurze Strecken außerorts gefahren wurden.
  • Danach wurde eine 225-minütige Überlandfahrt angesetzt. Bei dieser Fahrt begleitete der Fahrlehrer die Schülerin mit dem Motorrad. Zeitweilig fuhr die Fahrschülerin voraus, auf schwierigeren Streckenabschnitten übernahm der Fahrlehrer die Führung.
  • Kurz nach der Hälfte dieser Fahrt, im Anschluss an eine etwa 20-minütige Kaffeepause, passierte der Unfall: Auf einem eher unproblematischen Streckenabschnitt fuhr der Fahrlehrer voraus. In einer leichten Linkskurve kam die Fahrschülerin nach rechts von der Fahrbahn ab, stürzte und stieß gegen ein Hindernis (Baumwurzel).

Vorbringen der klagenden Seite

Der Anwalt der Klägerin vertrat die Auffassung, die Fahrschule habe in folgenden Punkten gegen die Regelungen der Fahrschüler-Ausbildungsordnung verstoßen und sei deshalb zum Schadenersatz verpflichtet:

  • Bei einer Bewerberin ohne Vorkenntnisse sei es nicht möglich, mit lediglich zehn Fahrstunden die Grundausbildung weitgehend abzuschließen. Der Beginn der Sonderfahrten sei somit zu früh erfolgt.
  • Bei einer Überlandfahrt von 225 Minuten Dauer am Stück sei von einer Überforderung der Fahrschülerin auszugehen.
  • Die von der Fahrschule vorgelegte Dokumentation der Ausbildung sei unvollständig und somit nicht ausreichend.

Zur Stützung ihrer Argumentation verwies die Klägerseite auch auf die einschlägigen Kommentierungen zum Fahrlehrerrecht. So z. B. auf eine bei ähnlich gearteten Verfahren immer wieder zitierte Passage aus der aktuellen Auflage des Kommentars „Fahrlehrer Recht“ von Bouska/May/Koehl zur Zweiradausbildung:

„Eine Mindestanzahl von Fahrstunden für die Grundausbildung ist nicht vorgeschrieben. Insgesamt wird davon auszugehen sein, dass eine sachgerechte Grundausbildung i. d. R. mindestens zehn Fahrtstunden umfasst.“

Bestellung eines Gutachters

Da die Verhandlung das Gewicht der Vorwürfe nicht klären konnte, beschloss das Gericht, einen Gutachter zu bestellen. Benannt wurde Karl-Heinz Hiller, anerkannter Motorradexperte, Fahrlehrer und langjähriger Trainer für Motorradsicherheit. Der Gerichtsbeschluss hierzu lautete wie folgt:

„Es ist durch Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens Beweis darüber zu erheben,

    1. ob es generellen Ausbildungsgrundsätzen der Motorradfahrlehrer widerspricht,

      a) mit einem Motorradfahrschüler der Klasse A2, der keine Vorkenntnisse besitzt, nach drei jeweils 90-minütigen Unterrichtseinheiten im Schonraum und zwei jeweils 90-minütigen Unterrichtseinheiten im Straßenverkehr eine Überlandfahrt als erste Sonderfahrt durchzuführen;

      b) die erste Sonderfahrt in Form einer Überlandfahrt über einen Zeitraum von fünf direkt aufeinanderfolgenden 45-minütigen Unterrichtsstunden, also mit einer Gesamtdauer von 225 Minuten, anzusetzen;
    2. ob die der Klägerin zum Erwerb des Führerscheins der Klasse A2 erteilten Fahrunterrichte in der Ausbildungskarte in erheblichem Maße unvollständig dokumentiert wurden;

    3. ob aus objektiver fachlicher Sicht eines Fahrlehrers mit der Klägerin nach ihrem individuellen Ausbildungsstand am 21.10.2012 noch keine 225-minütige Überlandfahrt hätte durchgeführt werden dürfen, weil Überforderung zu befürchten war.”

Dem Gutachter wurden sämtliche Ermittlungsakten und Gerichtsprotokolle zur Verfügung gestellt. Außerdem konnte er gemeinsam mit den Prozessbeteiligten die Unfallstelle in Augenschein nehmen.

Das Gutachten führte zu folgenden vier Ergebnissen:

  1. Auch wenn die von der Fahrschule vorgelegte Dokumentation sehr lückenhaft war, erschloss sich aus den Verhandlungsprotokollen, dass der Fahrlehrer eine didaktisch gegliederte Grundausbildung durchgeführt hat, die den Vorgaben des Curricularen Leitfadens entsprach. Da die Fahrschülerin bereits im Besitz der Fahrerlaubnis Klasse B war und vom Fahrlehrer als aufgeschlossene, sehr lernwillige und talentierte Fahrschülerin geschildert worden war, kam der Gutachter zum Ergebnis, dass die durchgeführten 10 Fahrstunden ausgereicht hatten, um die in Anlage 3 der Fahrschüler-Ausbildungsordnung vorgeschriebenen Unterrichtsinhalte zu vermitteln. Bei Unterschreitung dieses Übungsumfangs wäre mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ein Verstoß gegen die FahrschAusbO nicht auszuschließen gewesen.

  2. Eine der vorgeschriebenen fünf Überlandschulungen muss mindestens 90 Minuten dauern. Die übrigen drei Überlandfahrten können zeitlich beliebig gestaltet werden; die Entscheidung darüber liegt allein beim Fahrlehrer. Es ist – wie bereits ausgeführt – zulässig, die vorgeschriebene Überlandschulung von 225 Minuten in einer Fahrt durchzuführen. Das kann beispielsweise geboten sein, wenn aus einem Ballungsgebiet heraus die Anfahrt zu geeigneten Strecken entsprechend lange dauert. Wird jedoch eine Überlandfahrt von längerer Dauer angesetzt, müssen auf die Fahrzeit nicht anzurechnende Pausen eingeplant werden. Außerdem muss der Fahrlehrer bei Bedarf, z.B. Anzeichen von nachlassender Konzentration, weitere Pausen einlegen oder die Fahrt sogar abbrechen. Da der Fahrlehrer nach etwa der Hälfte der Fahrt eine ausreichend lange Pause eingeplant hatte, war es beim erreichten Ausbildungsstand zulässig, die 225-minütige Überlandfahrt durchzuführen.

  3. In Anbetracht der kurz vor dem Unfall eingelegten 20-minütigen Pause kann nicht von einer zeitlichen Überforderung ausgegangen werden. Zumal eine Überlandschulung gemäß den gesetzlichen Vorgaben auch mit einer Dauer von 225 Minuten angesetzt werden darf. Von einer Überforderung allein durch die geplante Zeitdauer der Fahrt auszugehen, ist nicht angemessen. Es ist ein Ziel der Ausbildung, Fahrschülern durch längere Fahrten die Wichtigkeit von Pausen nahezubringen. Selbstverständlich muss der Fahrlehrer dabei jede Überforderung des Schülers vermeiden. Das gilt durchgängig, also bereits ab dem Beginn einer Ausbildungsfahrt. Für Fahrschüler, die zu Stress, Hektik oder Nervosität neigen, können schon einfache Anforderungen im Verkehr zu Überforderung führen. Deshalb muss der Fahrlehrer beim Erkennen von Anzeichen einer Überforderung eine Fahrstunde unterbrechen, eine Pause einlegen, vielleicht sogar ganz abbrechen. Der Fahrlehrer habe aber im vorliegenden Fall rechtzeitig eine ausreichend lange Pause eingelegt und musste deshalb zum Unfallzeitpunkt nicht von einer Überforderung der Schülerin ausgehen.

  4. Die Frage, ob die von der Fahrschule vorgelegte Ausbildungsdiagrammkarte korrekt geführt war, beantwortete der Gutachter wie folgt: „Die Aufzeichnungen nach § 5 FahrschAusbO waren in erheblichem Maße unvollständig geführt. Aus der vorgelegten Ausbildungskarte kann nur lückenhaft entnommen werden, welche Inhalte behandelt wurden. Aus ihr geht weder der Name der Fahrschülerin hervor noch kann der Verlauf der Ausbildung im Einzelnen nachvollzogen werden, die Dokumentation des erteilten Fahrunterrichts war mindestens lückenhaft.

Gericht rät zur Rücknahme der Klage

Nachdem das Gutachten vorlag, fand ein weiterer Verhandlungstermin statt. Dabei erklärte die Vorsitzende Richterin, das Gericht könne aufgrund des Gutachtens keinen Ausbildungsfehler erkennen. Trotz der fehlerhaften Dokumentation sei klar geworden, dass die Ausbildung entsprechend den Vorgaben des Curricularen Leifadens abgelaufen war und der Fahrschule kein Fehlverhalten vorzuwerfen sei. Sie rate deshalb der Klägerin, die Klage zurückzunehmen, da ansonsten mit einer deutliche Mehrkosten verursachenden Klageabweisung zu rechnen sei. Nach einigen Tagen Bedenkzeit erfolgte Klagerücknahme. Damit war der Fall für die Fahrschule erledigt.  JK

Und die Moral von der Geschicht?

Liebe Kolleginnen und Kollegen, aus diesem letztlich für die Fahrschule gut ausgegangenen Fall lassen sich wichtige Schlüsse ziehen:

  1. Eine am Curricularen Leitfaden orientierte und mit der zugehörigen Diagrammkarte sauber dokumentierte Ausbildung kann gegen den Vorwurf von Ausbildungsfehlern schützen.
  2. Eine zu kurze Grundausbildung mit schieren Anfängern nach der Devise 4 bis 6 Fahrstunden und dann Sonderfahrten ist meist nicht sachgerecht. Sie birgt überdies nach einem Unfall während der Ausbildung die Gefahr von schwer abzuwehrenden Schadenersatzansprüchen.
  3. Bei längeren Ausbildungsfahrten sind ausreichende Pausen zwingend. 
  4. Und ein Letztes: Die Fahrschüler-Unfallversicherung der Fahrlehrerversicherung VaG zahlt auch dann, wenn der Fahrschule kein Fehlverhalten nachgewiesen werden kann. Sie kann somit im Zweifelsfall für den Fahrschüler ein echtes Trostpflaster sein.