Fahrschülerausbildung: Motorrad - Ausweichen nach Abbremsen - Abschaffen? Nachdenken? Oder weiter so?

© FahrSchulPraxis - Entnommen aus Ausgabe Januar/2019, Seite 18

Das war in der November-Ausgabe 2018 dieser Zeitschrift der Titel eines vielbeachteten Fachbeitrags von Karl-Heinz Hiller. Dazu erreichte uns vom ifz – Institut für Zweiradsicherheit e.V. – eine sehr interessante Replik.

„Sehr geehrter Herr Hiller,

wir freuen uns sehr, dass unsere Studie „Bremsen oder Ausweichen? Oder sogar beides?“ im Rahmen Ihrer regelmäßigen Publikation „FahrSchulPraxis“ thematisiert wurde. Wenn unsere Studie dazu dient, das Thema Motorradsicherheit in den Fokus zu rücken und eine Diskussion über mögliche Fahrmanöver in unfallträchtigen Situationen in Gang zu setzen, vorherrschende Manöver zu hinterfragen und neue in Erwägung zu ziehen, begrüßen wir dies ausdrücklich. Letztlich verfolgen wir ein gemeinsames Ziel, das Motorradfahren mit einem Höchstmaß an Sicherheit zu kombinieren.

Das Verhalten in Gefahrensituationen ist auf dem Weg zu diesem Ziel ein wichtiger Aspekt. Der Studie, die jedem Interessierten auf unserer Webseite gratis zur Verfügung steht, liegt die Annahme einer solchen Gefahrensituation und die Analyse möglicher Handlungsalternativen in der konkreten Situation zugrunde. Dass eine so umfangreiche Untersuchung in der Folge diskutiert wird und an einigen Stellen der Klärung bedarf, gehört dazu und wir möchten gern einige der von Ihnen geschilderten Aspekte aufgreifen und manchen Punkt konkretisieren.

Zwei Grundannahmen herauszuheben ist von elementarer Bedeutung:

    1. In der von uns geschilderten Gefahrensituation handelt es sich um ein sich bewegendes Hindernis.
    2. Motorradfahrer haben für ein Manöver in einer Gefahrensituation sehr wenig Zeit.

Wir wählten für unsere Studie eine Gefahrensituation, in der ein von rechts kommender Pkw-Fahrer einem Motorradfahrer (Vorfahrtstraße, Geradeausfahrt) die Vorfahrt nimmt. Die Situation ist insofern unklar, da wir nicht wissen, ob der Pkw-Fahrer in unserer Spur anhalten wird bzw. wie weit er noch „rauszieht“.

Einem Motorradfahrer bleiben für die Erfassung einer Gefahrensituation samt Entscheidung für ein Manöver und der Ein- und Durchführung desselben im Durchschnitt lediglich 1,7 Sekunden (siehe GIDAS – Unfalldatenerhebungen). Aus diesem Grund betrachten wir das Bremsen-Lösen-Ausweichen (Ausweichen nach Abbremsen, BLA) in einer solchen Situation kritisch, weil es ein sehr komplexes Manöver darstellt, welches dem Fahrer zu viele Entscheidungen und Unsicherheiten überlässt, unterschiedliche Handlungen, die zudem zeitlich versetzt durchgeführt werden müssen.

Vergleichsweise eindeutig im Ablauf ist die Gefahrbremsung (erste Fahraufgabe „Vollbremsung bis zum Stillstand“ bei 50, 70 und 100 km/h) und auch das Ausweichmanöver ohne Abbremsen (zweite Fahraufgabe „3,5 m Spurversatz, ohne dabei zu bremsen“, bei 50, 70 und 100 km/h). Der direkte Vergleich der benötigten Strecken für die beiden Manöver zeigt, dass die Teilnehmer bis zu einer Geschwindigkeit von 100 km/h bei einer alleinigen Bremsung im Mittel kürzere Wege als beim Spurversatz benötigen. Die schnellen Ausweichmanöver erfordern hier im Durchschnitt also mehr Strecke als eine Gefahrbremsung. Bei Fahrern auf Fahrzeugen ohne ABS liegt die entsprechende Nutzenschwelle mit Blick auf die Geschwindigkeit weiter unterhalb: bei 78 km/h. Bei der von uns geschilderten Gefahrensituation ist jedoch ein Ausweichmanöver ohne Bremsung nicht zu bevorzugen, weil sich das Hindernis weiterhin in Bewegung befinden könnte, was ein Ausweichen erschwert.

Darum war es uns wichtig, die Bremsung in den Mittelpunkt zu rücken. Nur dann verschenken wir keine Zeit, die wir für den Abbau kinetischer Energie, sprich für die Bremsung, zur Verfügung haben. Ebenso wie die Gefahrbremsung ist das von uns als dritte Testreihe durchgeführte Manöver „Bremsen und Ausweichen“ in dem Sinne eindeutig, als dass die Handlungen Bremsen und dabei Ausweichen zeitlich sehr nah beieinander liegen. Der Fahrer wird im Vergleich zum BLA bezüglich einer weiteren notwendigen Entscheidung (das Lösen der Bremse und Starten des Ausweichmanövers) entlastet. Wir priorisieren dabei aus besagtem Grund die Bremsung und versuchen, dabei so weit wie möglich auszuweichen. Dass dieses Ausweichen im Durchschnitt die Bremswege verlängert, weil, wie Sie richtig anmerken, jedes Ausweichen fahrphysikalisch die Effizienz der Gefahrbremsung mindern muss, konnten wir auch in der Praxis beobachten.

Es kann dabei nicht mit der höchstmöglichen Verzögerung gebremst werden. Dennoch waren die dabei erzielten Spurversätze bei meist nur geringfügig längerem Bremsweg beachtlich. Die Verzögerungswerte der Motorräder mit ABS erzielten dabei eindeutig die besseren Resultate, insofern liegt es uns fern, das ABS als überflüssig (Sie schreiben „nicht notwendig“ und „unnötig“) zu bezeichnen. In der Studie sagen wir konkret „nicht zwingend erforderlich“ und heben hervor, dass ABS dieses Manöver hervorragend unterstützt und die Sturzwahrscheinlichkeit minimiert. Was unsere Ergebnisse zeigen, ist, dass sowohl die Gefahrbremsung als auch das „Bremsen und Ausweichen“ auch dem Motorradfahrer, der ohne ABS unterwegs ist, zuzumuten ist – wenngleich bei schlechteren Verzögerungswerten. Sie vermuten an dieser Stelle, dass nicht am absoluten Limit gebremst wurde. Den Teilnehmern wurde vorgegeben, so schnell es geht zum Stehen zu kommen und dabei den Spurversatz durchzuführen (so weit wie möglich nach links). In der Studie ist der Begriff „Vollbremsung“ dabei bewusst in Anführungszeichen gesetzt. Die geforderte Fahraufgabe bedingt also, nicht am Limit zu bremsen, da sonst ein Spurversatz nicht möglich wäre. Dass Fahrer, wie bei jedem anderen Manöver (z.B. BLA), auch bei diesem mit und ohne ABS stürzen können, ist offensichtlich. Umso wichtiger ist das Üben und Wiederholen dieser Manöver. Letztlich können wir die Untersuchungsergebnisse dahingehend beurteilen, dass bei über 900 Testfahrten keine Stürze verzeichnet wurden (trotz großer Bandbreite hinsichtlich des fahrerischen Könnens unter den Teilnehmern). Wir zeigen also lediglich auf, wozu Motorradfahrer, unabhängig von der technischen Ausstattung, in der Lage sind.

Wir haben mit den Ergebnissen der Studie zunächst Daten gesammelt, die sich auf die konkreten Fahrmanöver bei der geschilderten Gefahrensituation beziehen und Vorschläge geliefert, was perspektivisch daraus gemacht werden kann. Ebenso konzentrieren wir uns im Ausblick der Studie vorrangig auf eine Empfehlung der Bremsung mit gleichzeitigem Spurversatz für Motorrad-Sicherheitstrainings. Sicher ist an dieser Stelle, dass es wie bei allen anderen Fahrmanövern von herausragender Bedeutung bleibt, diese immer wieder zu trainieren.

Inwiefern sich aus den Ergebnissen Änderungen mit Blick auf die Fahrschulausbildung ergeben können, muss noch weiter erörtert werden. Für den Weiterbildungsbereich nach der Fahrschulausbildung arbeitet der Deutsche Verkehrssicherheitsrat (DVR) bereits daran, die Bremsung mit einhergehendem Ausweichmanöver in das Sicherheitstraining „Motorrad“ aufzunehmen. Geplant ist die Übung als Bestandteil der Trainings schon für die nächste Saison in 2019.

Wir danken Ihnen an dieser Stelle dafür, dass Sie den Erkenntnissen der Studie Beachtung schenken und dazu anregen, die Ausbildungs- und Trainingssituation weiter zu optimieren.

Eines ist klar, wir alle blicken in dieselbe Richtung und sind daran interessiert, Motorradfahren kontinuierlich sicherer zu machen.

Gerne stehen wir Ihnen für weitere Gespräche und Diskussionen zur Verfügung.

So viel für heute.

 

Mit freundlichen Grüßen

Matthias Haasper

Forschungsleiter
ifz – Institut für Zweiradsicherheit e.V.
Servicepark Essen
Gladbecker Str. 425
45329 Essen"