Ralf Schütze unterwegs für FPX: Hohe Risiken für winzigen Zeitgewinn

© FahrSchulPraxis - Entnommen aus Ausgabe Juli/2019, Seite 440

Autobahnbaustellen bergen eine Verlockung und in der Folge ein hohes Risiko: Ohne darüber nachzudenken benutzen sehr viele Pkw-Fahrer den meist deutlich schmaleren linken Fahrstreifen. Hintergrund: Fast immer fließt dort der Verkehr etwas schneller als rechts. Aber dürfen sie das? Die Antwort ist in den meisten Fällen ein klares Nein.

Auf einer Autobahn wird die zulässige Höchstgeschwindigkeit zunächst auf 100, dann auf 80, manchmal sogar auf 60 km/h gedrosselt. Grund: Eine Baustelle mit verengten Fahrstreifen. Links waren früher meist nur Fahrzeuge mit einer tatsächlichen Breite von maximal 2,00 m erlaubt. Inzwischen gibt es in Baustellen auch linke Fahrstreifen für bis zu 2,10, 2,20 oder sogar 2,30 m Fahrzeugbreite, aber nach wie vor ist oft bei 2,00 m Breite Schluss. Die Angaben im Vorschriftszeichen 264 können je nach Platzverhältnissen variieren.

„Spiegelfechterei“

Zeichen 264; Quelle: Wikipedia

Zeichen 264; Quelle: Wikipedia

Die wenigsten Autofahrer sind sich über zwei entscheidende Fakten im Klaren: Erstens, dass mit Zeichen 264 nicht nur der Karosseriekörper gemeint ist, sondern alles, was dessen Umriss in der Breite verändert, also darüber hinausragende Außenspiegel. Zweitens: Auch wer das weiß, kennt oft die wirkliche Breite seines Fahrzeugs nicht. Wenn man in die Zulassungsbescheinigung Teil I schaut, findet man unter Ziffer 19 nur die Breite ohne Spiegel. Dass man aufwendiger recherchieren muss, um die Breite mit Spiegel zu erfahren, geht übrigens auf die ISO-Norm 612 von 1978 zurück. Diese sieht vor, dass Fahrzeugbreiten ohne Spiegel und andere Anbauteile gemessen werden. Ungeachtet der tatsächlichen Gesamtbreite ihres Fahrzeugs nutzen sehr viele Autofahrer in Autobahnbaustellen den linken, meist etwas schneller befahrbaren Fahrstreifen, um teils sehr waghalsig den rechts fahrenden Lkw-Konvoi zu überholen.

Breitwuchs

Schlimmstenfalls 2,00 m, bestenfalls meist 2,20 m samt Außenspiegeln darf also die Maximalbreite der Fahrzeuge sein, die in einer zweistreifigen Autobahnbaustelle links fahren dürfen.

Zulassungsbescheinigung Teil I: Unter Ziffer 19 wird die Fahrzeugbreite angegeben: ohne Spiegel und sonstige Anbauten; Foto: Maria Reufer

Zur Orientierung: Der absolute Fahrschul-Liebling VW Golf ist von seiner Erstausgabe Golf I 1974 bis zum aktuellen Golf VII ohne Spiegel um satte 19 cm breiter geworden – die Breite wuchs in dieser Zeit von 1,61 m auf 1,80 m. Allgemein hat sich die Breite von Kompaktautos „netto“ (= ohne Spiegel) zwischen 1978 und 2018 von durchschnittlich 1,59 m auf 1,78 m erhöht – deshalb sind auch immer mehr dieser Fahrzeuge samt Spiegel über 2,00, manchmal sogar über 2,10 m breit. Sozusagen „brutto“ ist der VW Golf heute satte 2.027 mm breit, also 2,03 m. Deshalb darf man mit ihm in Baustellen nur Fahrstreifen nutzen, die mindestens bis 2,10 m Fahrzeugbreite freigegeben sind. Besitzer eines VW T-Roc, ein leicht höhergelegter Golf-Ableger, haben in dieser Hinsicht einen Vorteil: Der auch als Fahrschulfahrzeug immer beliebtere Allrounder ist ohne Spiegel 1.819 mm, mit Spiegeln exakt 2.000 mm breit – also freie Fahrt auf allen Autobahnbaustellen.

Zulassungsbescheinigung Teil I: Unter Ziffer 19 wird die Fahrzeugbreite angegeben: ohne Spiegel und sonstige Anbauten; Foto: Maria Reufer

Breite über alles

Wer überprüfen möchte, wie breit sein Fahrzeug samt Außenspiegeln exakt ist, wird zum Beispiel beim ADAC fündig, der kürzlich die aktuellen Fahrzeugbreiten von Pkw aufgelistet hat. Demnach sind ca. 70 Prozent der Modelle zu breit für den 2-Meter-Fahrstreifen. Zu finden sind die Werte mit und ohne Außenspiegel, wenn man „ADAC“ und „Autobreiten in der Baustelle“ googelt oder unter diesem Link: https://www.adac.de/verkehr/verkehrsvorschriften-verkehrssicherheit/verhalten-strassenverkehr/autobreiten-in-der-baustelle/

AUDI

Gerade noch für die schmalsten Autobahnbaustellen geeignet ist das ebenfalls beliebte Fahrschulauto Audi A3 Sportback mit 1,97 m Breite samt Spiegel. Mit SUV derselben Marke sieht es hingegen anders aus: Der relativ junge Audi Q2 ist wenigstens für die 2,10 m breiten Fahrstreifen geeignet (exakte Breite: 2.015 mm), auch ein Q3 muss hier nicht nach rechts ausweichen (2.025 mm). Die Limousine Audi A4 sowie deren Kombiversion A4 Avant dürfen mit 2.035 bzw. 2.030 mm ebenfalls Spuren bis 2,10 m Breite befahren.

MINI

Ein Mini Countryman ist exakt so breit wie der Audi Q2, auch mit ihm sind also Fahrstreifen für maximal 2,00 m breite Fahrzeuge tabu.

VW Tiguan

Für dieses von Fahrschulen ebenfalls sehr geschätzte Auto sind die linken Fahrstreifen in Autobahnbaustellen nur dann breit genug, wenn Zeichen 264 mit „2,2 m“ beschriftet ist. Exakte Breite des Tiguan: 2.115 mm, das gilt auch für den Tiguan Allspace.

Alfa Romeo Giulietta

Dieser VW-Golf-Rivale ist – wie der VW T-Roc – mit 2,00 m tatsächlicher Breite über alles ebenfalls für den linken Fahrstreifen zulässig.

„Dunkelziffern“

Wie rätselhaft die erlaubte Maximalbreite in Autobahnbaustellen auf die meisten Autofahrer wirkt, weiß Jochen Klima, Vorsitzender des baden-württembergischen Fahrlehrerverbandes: „Ich gehe davon aus, dass ein Großteil der Autofahrer nicht weiß, dass die Breite auf dem Verbotszeichen nicht der im Kfz-Schein angegebenen Breite entspricht, sondern der tatsächlichen Breite mit Spiegel.“ Deshalb sei die immer häufiger zu beobachtende Ausweitung auf 2,10, oft bereits auf 2,20 m „absolut sachgerecht.“

Kein polizeilicher Schwerpunkt

Timon Kuntz, Verkehrsreferent im baden-württembergischen Innenministerium, sieht keinen Überwachungsschwerpunkt in der ordnungsgemäßen Nutzung verengter Autobahnbaustellen: „Wir konzentrieren uns vor allem auf Situationen, wo man feststellen muss, da sterben uns die Menschen weg.“ 2018 waren dies laut Kuntz mit 161 Toten vor allem die Geschwindigkeitsüberschreitungen. Die korrekte Nutzung des linken Fahrstreifens in Autobahnbaustellen hingegen sei aus gutem Grund nicht im Fokus der Polizei. Unfälle gebe es vor allem wegen falscher Reaktionen der Autofahrer, wenn’s mal eng wird, nicht per se wegen zu breiter Fahrzeuge. Baustellen seien generell ein verengter Verkehrsraum mit erhöhten Anforderungen an die Verkehrsteilnehmer. Viel gefährlicher in Zusammenhang mit Autobahnbaustellen sind laut Kuntz jedoch die jeweiligen Stauenden, die sich sehr oft zu Beginn einer verengten Baustelle bilden würden – mit teils sehr schweren Unfallfolgen.

Versetztes Fahren

Dieses Zeichen empfiehlt, in Autobahnbaustellen versetzt zu fahren; Foto: Peter TschöpeDieses Zeichen empfiehlt, in Autobahnbaustellen versetzt zu fahren; Foto: Peter Tschöpe

Vom sog. „Versetzten Fahren“ hält Jochen Klima nicht allzu viel: „Damit tue ich mich etwas schwer, und zwar wegen der Geschwindigkeitsunterschiede. Und ob das jetzt eine verbindliche Anordnung ist, wage ich zu bezweifeln, weil es dafür in der StVO keine Grundlage gibt.“ Die Idee vom versetzten Fahren sei nur dann sinnvoll, wenn bei mangelnder Breite der Fahrstreifen der Verkehr mit gleichem Tempo fließe. Aber diese Idee sei laut Klima noch nicht in den Köpfen angekommen. Auch sei unklar: „Darf ich jetzt oder muss ich jetzt, oder ist es eine Empfehlung?“ Versetztes Fahren sei nicht sauber definiert. Wenn überhaupt, eigne es sich für kurze Abschnitte und unter Angabe einer überschaubaren Streckenlänge, so Klimas Einschätzung zu dieser manchmal in Autobahnbaustellen empfohlenen Lösung. 

Rechts bleiben

In jedem Fall rät Jochen Klima seinen Fahrschülern dazu, beim Befahren verengter Autobahnbaustellen auf Nummer Sicher zu gehen und den rechten Fahrstreifen zu benutzen. Der ist nämlich mindestens 3,00 und oft bis zu 3,25 m breit. Das Thema wird laut Klima im Theorieunterricht eingehend behandelt. „Der Grundsatz ist ganz einfach: Auf dem rechten Fahrstreifen ist mehr Platz, weil dieser auf Lkw ausgelegt ist. Und die Geschwindigkeit ist ohnehin limitiert. Deshalb ist man rechts immer besser aufgehoben.“ Die glasklare Mathematik gibt dem Fahrlehrer absolut recht. Denn links zu fahren bringt höchstens einen unwesentlichen Vorteil: Pro Kilometer hat man gerade mal 3 Sekunden Zeitgewinn, wenn man für den rechten Fahrstreifen 75 km/h annimmt und links die erlaubten 80 km/h möglich sind. Oder ganz pragmatisch gerechnet: Selbst wenn jemand unter fahrlässiger Missachtung des Tempolimits mit 95 km/h durch die Baustelle rasen würde, läge seine Zeitersparnis gegenüber den erlaubten 80 km/h gerade mal bei 7 Sekunden pro Kilometer – eine geradezu lächerliche Ausbeute, wenn man sich die hohen Risiken vor Augen führt.

Zusätzliche Risiken

Im schlimmsten Fall kann sogar der Kasko-Versicherungsschutz eingeschränkt sein, oder man bekommt eine Mitschuld zugesprochen. Wer die Maximalbreite bei verengten Autobahnbaustellen absichtlich missachtet, muss außerdem mit 20 € Verwarnungsgeld rechnen. Hoffnung gibt schließlich Jochen Klimas folgende Beobachtung aus dem Praxisunterricht: „Die Fahrschüler fühlen sich auf diesem schmalen linken Fahrstreifen gar nicht wohl. Wenn man sie mal den linken Fahrstreifen ausprobieren lässt, sind sie spürbar froh, wenn sie wieder auf den rechten zurück dürfen.“