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237 EDITORIAL: B197: Warum so bürokratisch?
242 UPDATE: 10,6 Prozent weniger Verkehrstote im Jahr 2020 / Was man der Versicherung verspricht ... / Die neue Automatikregelung ist so neu nicht
250 Geschäfts- und Kassenbericht 2020-2021 (Teil I: Kassenbericht)
264 Wettbewerbsverstöße 2020 (s. Geschäfts- und Kassenbericht 2020-2021, S. 41)
267 Neue Automatikregelung: Einführungserlass der Landesregierung
272 Gründung einer Fahrschule: Die Gemeinschaftsfahrschule - von innen betrachtet
276 Bundesvereinigung: Neues Führungstrio gewählt
278 E-Auto: kaufen, leasen oder abonnieren? Welche Form für Fahrschulen? Kluges Rechnen erspart Kosten und Ärger.
284 Sozialvorschriften Artikel 12 - Fälle höherer Gewalt: Lenkzeit - Neue Ausnahmen seit August 2020
294 Gerichtsurteile: (2500) Unfall zwischen Radfahrerin und Pkw / (2501) Staat will überall Hand aufhalten / (2502) Schadenabrechnung nach Gutachten / (2503) Mit Taschenrechner am Steuer
Sozialvorschriften Artikel 12 - Fälle höherer Gewalt: Lenkzeit - Neue Ausnahmen seit August 2020
© FahrSchulPraxis - Entnommen aus Ausgabe April/2021, Seite 284
Welcher Lkw- oder Busfahrer kennt das nicht? Man ist mit seinem Fahrzeug unterwegs, hat die Tour gut geplant. Doch dann ein langer Stau, eine Umleitung, unerwartet starker Schneefall, eine Reifenpanne oder ein sonstiger die Weiterfahrt hemmender Vorfall, mit dem selbst ein sehr sorgsamer Fahrer nicht rechnen musste.
In der Aus- und Weiterbildung fragt der Fahrer den Fahrlehrer: Was tun in solch einer Situation? Schon mit Einführung der neuen Sozialvorschriften zum 01.05.2006 hatte der europäische Verordnungsgeber mit einer Ausnahmeregelung solchen Geschehnissen Rechnung getragen. Umgangssprachlich wird diese gern als „Notstandsregel“ bezeichnet. Artikel 12 der VO (EG) 561/2006 enthielt eine Ausnahmeregelung, die so lautete:
„Sofern die Sicherheit im Straßenverkehr nicht gefährdet wird, kann der Fahrer von den Artikeln 6 bis 9 abweichen, um einen geeigneten Halteplatz zu erreichen, soweit dies erforderlich ist, um die Sicherheit von Personen, des Fahrzeugs oder seiner Ladung zu gewährleisten. Der Fahrer hat Art und Grund dieser Abweichung spätestens bei Erreichen des geeigneten Halteplatzes handschriftlich auf dem Schaublatt des Kontrollgeräts oder einem Ausdruck aus dem Kontrollgerät oder im Arbeitszeitplan zu vermerken.“
Dieser Text ließ sehr viele Interpretationen zu. Die Ausnahmen wurden für jeden noch so kleinen Vorfall missbraucht. Deshalb hat der europäische Verordnungsgeber seine Vorstellungen von der Nutzung der Ausnahme mit einer Handlungsanweisung zu Artikel 12 verdeutlicht. Diese an die Mitgliedsländer gerichtete „Guidance Note“ ist in der deutschen Übersetzung als „Leitlinie 1“ zu finden. In dieser hat die EU drei Adressaten benannt, nach denen sehr genau, weitsichtig und stets auf den Einzelfall bezogen zu handeln ist.
Erstens:
Allen voran ist der Verkehrsunternehmer samt seinen in der Disposition aktiven Mitarbeitenden verantwortlich. Der Verkehrsunternehmer hat den Einsatz eines Fahrers so sorgfältig zu planen, dass die Sicherheit gewährleistet ist, indem beispielsweise regelmäßig auftretende Verkehrsstaus, die Wetterbedingungen und die Verfügbarkeit angemessener Parkplätze bedacht werden. Das bedeutet, dass das Unternehmen die Arbeit so organisieren muss, dass es dem Fahrer möglich ist, die Bestimmungen der Verordnung einzuhalten. Außerdem sollte darauf geachtet werden, dass den Anforderungen von Speditionen und Versicherungsunternehmen in Bezug auf ein sicheres Parken nachgekommen wird. Dabei kommt die sogenannte „Weg-Zeit-Berechnung“ ins Spiel. Der Disponierende muss genau hinschauen, wo welche möglichen und zulässigen Höchstgeschwindigkeiten während einer bestimmten Tour gefahren werden können. Und zwar Abschnitt für Abschnitt: innerstädtische Straßen, Kreis- und Landstraßen, Bundesstraßen, Kraftfahrstraßen und Autobahnen. Von den dabei festgestellten Höchstwerten der Fahrt sind 20 km/h in Abzug zu bringen, um zu einer realistischen Durchschnittsgeschwindigkeit zu gelangen, die mögliche Geschwindigkeitsreduzierungen durch Baustellen, Wartezeiten vor Ampeln oder Bahnübergängen und eine normale Verkehrsdichte berücksichtigt.
Zweitens:
An zweiter Stelle, aber deshalb nicht minder verantwortlich, ist der Fahrer. Er muss sich strikt an die Vorschriften halten und darf nicht von den maximal zulässigen Lenkzeiten abweichen. Es sei denn, es ist aufgrund unerwarteter außergewöhnlicher Umstände nicht möglich, die Bestimmungen der Verordnung einzuhalten. Gelangt ein Fahrer zu dem Schluss, dass eine Abweichung von den Bestimmungen der Verordnung erforderlich ist und dadurch die Sicherheit im Straßenverkehr nicht gefährdet wird, hat er, sobald er anhält, handschriftlich Art und Grund der Abweichung zu vermerken. Diesen Vermerk kann er in einer beliebigen Gemeinschaftssprache eines EU-Mitgliedslandes auf dem Schaublatt oder auf einem Ausdruck aus dem Kontrollgerät oder auch in seinem Arbeitszeitplan vermerken, sofern ein solcher vorhanden ist.
Drittens:
Schließlich sind die staatlichen Kontrollinstanzen (Behörden) verpflichtet, jeden Vorfall in einer Einzelfallbetrachtung zu bewerten. Bei den Straßenkontrollen durch Mitarbeiter des BAG oder Beamte der Polizei erfolgt eine Vorkontrolle hinsichtlich der Zulässigkeit einer Ausnahme. Führte diese zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis, muss die zuständige Verwaltungsbehörde eine Nachkontrolle in den Unterlagen der Firma vornehmen, um die Rechtmäßigkeit der Inanspruchnahme einer Ausnahme abschließend prüfen zu können. Das kann aufwendig sein, ist aber anders oft nicht machbar.
Sorgfältige Prüfung
Es liegt im pflichtgemäßen Ermessen der für die Durchsetzung zuständigen Stellen, bei der Kontrolle eines Fahrers zu bewerten, ob die Abweichung von den maximal zulässigen Lenkzeiten gerechtfertigt ist. Bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Abweichung auf der Grundlage von Artikel 12 hat die zuständige Stelle sämtliche Umstände des Einzelfalls sorgfältig zu prüfen. Insbesondere ist Folgendes zu beachten:
a) Es sind die früheren Aufzeichnungen über die Lenkzeiten des betreffenden Fahrers zu prüfen, um dessen üblichen Arbeitsrhythmus zu ermitteln und festzustellen, ob er in der Regel die vorgeschriebenen Lenk- und Ruhezeiten einhält und ob die Abweichung tatsächlich eine Ausnahme darstellt.
b) Bei der Abweichung von den maximal zulässigen Lenkzeiten darf es sich nicht um ein regelmäßiges Vorkommnis handeln. Die Abweichung muss ihren Grund in außergewöhnlichen Umständen haben, wie etwa größeren Verkehrsunfällen, extremen Wetterbedingungen, Verkehrsumleitungen, Parkplatzmangel etc.
c) Die maximal zulässigen täglichen und wöchentlichen Lenkzeiten sollten eingehalten werden. Der Fahrer sollte also nicht die Möglichkeit haben, durch Überschreitung der zulässigen Lenkzeiten bei der Parkplatzsuche einen Zeitvorteil zu erzielen.
d) Die Abweichung von den Vorschriften über die Lenkzeiten darf nicht zur Verkürzung der vorgeschriebenen Fahrtunterbrechungen und der täglichen und wöchentlichen Ruhezeit führen.
Die Bestimmungen dieses Artikels sollen es Fahrern ermöglichen, auf Situationen zu reagieren, die unerwartet während der Fahrt eintreten und es unmöglich machen, die Vorschriften der Verordnung einzuhalten: Situationen also, in denen der Fahrer sich mit außergewöhnlichen Schwierigkeiten konfrontiert sieht, die von seinem Willen unabhängig, anscheinend unvermeidbar und selbst bei gebotener Sorgfalt unvorhersehbar sind. Auch bei Inanspruchnahme der Ausnahmeregelung muss die Sicherheit von Personen, Fahrzeug und Ladung wie auch die Straßenverkehrssicherheit gewährleistet sein.
Soziale Bedürfnisse
Mit der VO (EU) 2020/1054 vom 15. Juli 2020 hat der Artikel 12 bedeutenden rechtlichen Zuwachs bekommen. Die Ausnahmeregelungen wurden erweitert: Die Heimfahrt zum Betriebshof oder zum Wohnort am letzten Fahrtag einer Arbeitswoche war in der Vergangenheit lenkzeitmäßig oft problematisch. Weil die Fahrer ihre Wochenruhezeit in familiärer Umgebung und nachts im eigenen Bett verbringen wollen, war Abhilfe dringend nötig. Der Europäische Verordnungsgeber hat in die Verordnung eine Regelung aufgenommen, die den sozialen Bedürfnissen der Fahrer entgegenkommt. Während der bisherige Artikel 12 nur die Überschreitung der Fahrzeit für das Erreichen des nächsten geeigneten Halteplatzes zuließ, hat die EU bei der Erweiterung des Artikels 12 an die sozialen Aspekte des Fahrpersonals gedacht und für die Fahrer unter bestimmten Bedingungen den Heimweg ermöglicht. Im neuen Verordnungstext heißt es dazu:
„Sofern die Sicherheit im Straßenverkehr nicht gefährdet wird, kann der Fahrer unter außergewöhnlichen Umständen auch von Artikel 6 Absätze 1 und 2 und von Artikel 8 Absatz 2 abweichen, indem er die tägliche und die wöchentliche Lenkzeit um bis zu eine Stunde überschreitet, um die Betriebsstätte des Arbeitgebers oder den Wohnsitz des Fahrers zu erreichen, um eine wöchentliche Ruhezeit einzulegen.“
Von der Ausnahme kann also nur am letzten Arbeitstag einer Arbeitswoche (nicht Kalenderwoche!), an dem sich der Fahrer auf dem Heimweg befindet, Gebrauch gemacht werden. Dort angekommen, muss er zwingend eine Wochenruhezeit einlegen, wobei der Zeitrahmen für die reduzierte Variante (mindestens 24 Std.) ausreicht.
Wie in allen Fällen des Artikels 12 gilt auch hier, dass die vorgegebene Disposition realistisch sein muss und die Verzögerung aufgrund eines unerwarteten Vorfalls entstanden ist. Für den Fahrer besteht zudem die Verpflichtung, die Lenkzeitüberschreitung am Ende der Fahrt auf der Rückseite des Ausdrucks aus dem Kontrollgerät, bei älteren Geräten auf der Rückseite der Tachoscheibe, handschriftlich zu dokumentieren.
Für den verantwortlichen Disponenten bzw. Verkehrsunternehmer kommt folgende Pflicht hinzu: Die eine Stunde Mehrfahrzeit muss bis zum Ende der nachfolgenden dritten Woche als zusätzliche Stunde der Ruhezeit an eine andere Tages- oder Wochenruhezeit angehängt werden. Ein weiteres Problem stellt die errechnete Gesamtlenkzeit der Doppelwoche dar, die nicht überschritten werden darf.
Ein anderer Absatz in Artikel 12 lässt eine Überschreitung der Lenkzeit am letzten Arbeitstag einer Arbeitswoche auch bis zu zwei Stunden zu, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Im Verordnungstext liest sich das so:
„Unter den gleichen Bedingungen kann der Fahrer die tägliche und die wöchentliche Lenkzeit um bis zu zwei Stunden überschreiten, sofern eine ununterbrochene Fahrtunterbrechung von 30 Minuten eingelegt wurde, die der zusätzlichen Lenkzeit zur Erreichung der Betriebsstätte des Arbeitgebers oder des Wohnsitzes des Fahrers, um dort eine regelmäßige wöchentliche Ruhezeit einzulegen, unmittelbar vorausgeht.“
In diesem Fall hat der Fahrer nicht nur die Dokumentation auf der Rückseite des Ausdrucks akkurat vorzunehmen, sondern unbedingt auch an die 30-minütige Unterbrechung vor der Inanspruchnahme der letzten beiden Stunden zu denken. Der Disponent wiederum ist hier ebenfalls in der Verpflichtung, den Ausgleich entsprechend zu planen und bis zum Ende der dritten Folgewoche zu gewährleisten.
Zudem müssen Fahrer und Disponenten unbedingt daran denken, dass die zweite Variante nur zulässig ist, wenn die im Anschluss verbrachte Wochenruhezeit eine „regelmäßige“ ist, deren Dauer mindestens 45 Stunden beträgt. Ausgleichszeiten vorangegangener Wochen, die, kombiniert mit der aktuell anzutretenden reduzierten Wochenruhezeit, mehr als 45 Stunden ergeben, zählen hierbei nicht. Der Verordnungstext lautet wie folgt:
„Der Fahrer hat Art und Grund dieser Abweichung spätestens bei Erreichen des Bestimmungsorts oder des geeigneten Halteplatzes handschriftlich auf dem Schaublatt des Kontrollgeräts, einem Ausdruck aus dem Kontrollgerät oder im Arbeitszeitplan zu vermerken. Jede Lenkzeitverlängerung wird durch eine gleichwertige Ruhepause ausgeglichen, die zusammen mit einer beliebigen Ruhezeit ohne Unterbrechung bis zum Ende der dritten Woche nach der betreffenden Woche genommen werden muss.“
Ausbilder, Fahrlehrer und BKF-Trainer sind nun gefragt, die neue Rechtslage zu vermitteln. Nur der Fahrer, der die Vorschriften kennt, kann sie auch gesetzeskonform anwenden.
Thomas Fritz