Umstrittene Regelung zum Berufszugang: Welche ist eine gleichwertige Vorbildung?

© FahrSchulPraxis - Entnommen aus Ausgabe August/2021, Seite 528

Wer Fahrlehrer/-in werden will, muss laut § 2 Absatz 1 Nr. 5 Fahrlehrergesetz mindestens eine abgeschlossene Berufsausbildung in einem anerkannten Lehrberuf oder eine gleichwertige Vorbildung besitzen. Als gleichwertig lässt das Regierungspräsidium Darmstadt nur einen höheren Schulabschluss (z. B. allgemeine Hochschulreife, Fachhochschulreife) gelten, nicht aber einen Realschulabschluss.

Als Folge dieser Auffassung lehnte das Regierungspräsidium am 23.07.2018 den Antrag einer Frau auf Zulassung zur Fahrlehrerprüfung ab, weil sie nur einen Realschulabschluss, aber keinen Nachweis über einen abgeschlossenen Ausbildungsberuf besitzt. Gegen diesen Ablehnungsbescheid hat die Klägerin mit Schriftsatz vom 23.08.2018 Klage vor dem Verwaltungsgericht Darmstadt erhoben.

Die Klägerin ist der Ansicht, ein Realschulabschluss erfülle die Anforderungen des § 2 Absatz 1 Satz 1 Nr. 5 FahrlG. Ein Realschulabschluss sei im deutschen Bildungssystem gegenüber einer abgeschlossenen Berufsausbildung als mindestens gleichwertig, in aller Regel sogar als höherwertig anzusehen. Denn allein mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung könne der Realschulabschluss nicht erworben werden. Dies zeige der Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 01.06.1979, mit dem sich die Länder verpflichtet hätten, Berufsschulabsolventen (nur) unter gewissen Voraussetzungen einen dem mittleren Bildungsabschluss gleichwertigen Bildungsstand zuzusprechen. Entsprechendes ergebe sich aus zahlreichen Landesverordnungen, so aus § 9 der Hessischen Verordnung über die Berufsschule. Danach entspreche eine Berufsausbildung nach dem Hauptschulabschluss nicht generell der mittleren Reife, sondern nur, wenn bestimmte Anforderungen an Fremdsprachenunterricht und die Stundentafel erfüllt seien.

Auch anderen Berufslaufbahnen sei zu entnehmen, dass eine Gleichwertigkeit bzw. sogar Höherwertigkeit des Realschulabschlusses gegenüber einer Berufsausbildung bestehe. Dazu verweist die Klägerin auf die notwendigen Einstiegsqualifikationen für den mittleren Dienst als Bundesbeamter aus § 17 Absatz 3 BBG sowie für zahlreiche Gesundheitsberufe (§ 5 KrPfIG, § 8 NotSanG, § 11 PflegeberufeG, § 4 LogopG, § 10 MPhG, § 5 MTAG sowie § 7 HebG), für die alle die mittlere Reife oder der erfolgreiche Besuch der Hauptschule nebst einer abgeschlossenen Berufsausbildung Voraussetzung sei.

Nach der bis zum 31.12.2017 geltenden Rechtslage sei im Fahrlehrergesetz ausdrücklich eine abgeschlossene Berufsausbildung nach abgeschlossener Hauptschulbildung oder eine gleichwertige Vorbildung verlangt worden. Durch die Gesetzesänderung zum 01.01.2018 werde ein Schulabschluss in der Norm nicht mehr vorgeschrieben, was jedoch nicht bedeute, dass eine Schulbildung von vornherein als gleichwertige Vorbildung ausscheide. Vielmehr spreche die Gesetzgebungshistorie dafür, dass ein mittlerer Bildungsabschluss jedenfalls jetzt gleichwertig mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung sei. Insoweit verweist die Klägerin auf ein von Herrn Prof. Dr. jur. Hermes (Goethe-Universität Frankfurt) im Auftrag der Bundesarbeitsgemeinschaft der Fahrlehrerausbildungsstätten und der MOVING International Roadsafety Association e.V. erstelltes Gutachten mit dem Titel „Der Zugang zum Beruf des Fahrlehrers und das Vorbildungserfordernis des § 2 Absatz 1 Satz 1 Nr. 5 FahrlG” vom 06.09.2019, wonach der mittlere Abschluss als gleichwertige Vorbildung zu qualifizieren sei.

Die Klägerin   beantragt, den Bescheid des Regierungspräsidiums Darmstadt vom 23.07.2018 aufzuheben und das Regierungspräsidium zu verpflichten, die Klägerin zur fahrpraktischen Prüfung sowie zur Fachkundeprüfung der Klasse BE nach § 8 FahrlG zuzulassen.

Das Regierungspräsidium   beantragt, die Klage aus den folgenden Gründen abzuweisen:
Ein Realschulabschluss sei nicht gleichwertig zu einer Berufsausbildung. Durch die neue Gesetzeslage habe sich in dieser Hinsicht keine Änderung ergeben. Ein der Berufsausbildung gleichwertiger Schulabschluss erfordere einen mindestens zwei-, eher dreijährigen Ausbildungsfortgang nach dem Hauptschulabschluss, also bis zum 11. oder 12. Schuljahr. Das Regierungspräsidium verweist dazu auf ein Urteil des OVG Münster vom 03.06.1996 (25 A 6898/95), wonach eine gleichwertige Vorbildung verlange, dass die schulische Abschlussprüfung nach dem 11. Schuljahr oder später abgelegt worden sei, sowie auf einen ähnlich lautenden Beschluss des Sächsischen OVG vom 14.12.2020 (6 B 162/20). Gleiches ergebe sich aus dem Erlass des Hessischen Ministeriums für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Landesentwicklung (HMWEVL) vom 11.09.2017, wonach ein mittlerer Schulabschluss allein nicht für den Erwerb der Fahrlehrerlaubnis ausreiche. Dies sei auch erforderlich, da es bei einem Fahrlehrer insbesondere auf die pädagogische Kompetenz und die Gewandtheit in Wort und Schrift ankomme. Zudem stelle auch § 19 Absatz 2 FahrlPrüfVO neben Kenntnissen und Fähigkeiten der Bewerber auf Form und Ausdrucksweise ab.

Die Entscheidung

Die Kammer entscheidet durch Gerichtsbescheid nach § 84 Absatz 1 VwGO, obwohl die Beteiligten auf mündliche Verhandlung verzichtet haben (§ 101 Abs. 2 VwGO), um dem Wunsch der Klägerin entsprechend eine beschleunigte Verfahrensweise zu gewährleisten. Besondere Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art weist die Sache nicht auf und der Sachverhalt ist geklärt. Die Klage ist zulässig und im Sinne einer Bescheidungsklage auch begründet.

Der Ablehnungsbescheid des Regierungspräsidiums Darmstadt vom 23.07.2018 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 VwGO).

Die Klägerin erfüllt die Voraussetzung der „gleichwertigen Vorbildung“ aus § 2 Absatz 1 Nr. 5 FahrlG und kann deshalb nicht wegen deren Fehlen von der Fahrlehrerprüfung ausgeschlossen werden. Ob sie damit gleichzeitig einen Anspruch auf Zulassung zur fahrpraktischen Prüfung sowie zur Fachkundeprüfung der Klasse BE nach § 8 FahrlG i. V. m. § 8 Absatz 1 FahrlPrüfVO hat, hängt davon ab, ob sie auch die übrigen Voraussetzungen des § 8 Absatz 1 Nr. 1 und Nr. 2 FahrlPrüfVO erfüllt. Dies ist vom Regierungspräsidium bislang nicht abschließend geprüft worden und kann anhand der in der Behördenakte befindlichen Unterlagen ebenfalls nicht verbindlich festgestellt werden. Insbesondere liegt keine Auskunft aus dem Fahreignungsregister (Verkehrszentralregister) vor, und es ist nicht ersichtlich, ob die Klägerin die praktische Ausbildung bereits begonnen hat. Dies lässt sich aus der Bestätigung der Fahrschule Mustermann (Name geändert, Red.) nicht eindeutig entnehmen, da dort die Formulierung enthalten ist, dass die Klägerin die viermonatige Fahrlehrerausbildung in der genannten Fahrschule „ausüben wird“. Jedenfalls sobald die Klägerin mit der Ausbildung begonnen hat und keine Tatsachen festgestellt werden, die für ihre Unzuverlässigkeit sprechen, ist die Zulassung auszusprechen. Nach § 8 FahrlG i.V. m. § 8 Absatz 1 FahrlPrüfVO lässt die zuständige Behörde den Fahrlehreranwärter für die Anwärterbefugnis der Klasse BE auf Antrag zur fahrpraktischen Prüfung und zur Fachkundeprüfung zu, wenn die Voraussetzungen nach § 2 Absatz 1 Satz 1 Nr. 2, 4 bis 6 des Fahrlehrergesetzes vorliegen und die Ausbildung nach § 2 Absatz 1 Satz 1 Nr. 8 des Fahrlehrergesetzes begonnen wurde. § 2 Absatz 1 Satz 1 Nr. 5 FahrlG setzt für die Erteilung einer Fahrlehrerlaubnis voraus, dass der Bewerber „mindestens eine abgeschlossene Berufsausbildung in einem anerkannten Lehrberuf oder eine „gleichwertige Vorbildung“ besitzt. Die Klägerin besitzt einen Realschulabschluss und damit eine gleichwertige Vorbildung im Sinne dieser Norm.

Ein Realschulabschluss (Mittl. Reife) ist gleichwertig mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung. Dies ergibt sich aus einer umfassenden Auslegung der Norm unter Beachtung von Wortlaut, Historie sowie Sinn und Zweck. Nach dem reinen Wortlaut von § 2 Absatz 1 Satz 1 Nr. 5 FahrlG ist nicht eindeutig, ob ein Realschulabschluss als „gleichwertige Vorbildung“ verstanden werden kann. Der Wortlaut ist offen und nicht klar umrissen. Eine Verbindung zu konkreten Schulabschlüssen besteht nicht. Einziger Bezugspunkt ist die Gleichwertigkeit zu einer Berufsausbildung. Ob eine Gleichwertigkeit zwischen einer Berufsausbildung und einem Realschulabschluss gegeben ist, muss daher anhand der Gesetzesbegründung sowie nach Sinn und Zweck der Norm ermittelt werden.

Die Gesamtschau der Gesetzeshistorie sowie deren Begründung spricht dafür, dass ein Realschulabschluss als gleichwertig zu einer Berufsausbildung anzusehen ist. Im Rahmen der früheren Rechtslage bis Ende 2017 mag davon ausgegangen worden sein, dass ein Realschulabschluss allein nicht für den Fahrlehrerberuf genügen soll. Das ursprüngliche Fahrlehrergesetz von 1969 setzte zwar zunächst keine besondere Vorbildung voraus. Erstmals mit der Gesetzesänderung im Jahr 1975/1976 nahm der Gesetzgeber allerdings die Voraussetzung einer Berufsausbildung oder einer gleichwertigen Vorbildung in das FahrlG auf. Durch das Gesetz zur Änderung des Gesetzes über das Fahrlehrerwesen vom 03.02.1976 wurde nach § 2 Absatz 1 Satz 1 Nr. 2a FahrlG vorausgesetzt, dass der Bewerber „mindestens eine abgeschlossene Berufsausbildung in einem anerkannten Lehrberuf nach abgeschlossener Hauptschulbildung oder eine gleichwertige Vorbildung“ besitzt. Der ursprüngliche Regierungsentwurf sah zunächst nur vor, dass „mindestens eine abgeschlossene Hauptschulbildung oder eine gleichwertige Schulbildung“ vorausgesetzt wird. Erst der Ausschuss für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen verlangte, dass mindestens eine abgeschlossene Hauptschulbildung mit Berufsausbildung in einem beliebigen anerkannten Lehrberuf vorzusehen sei. Dem Bericht des Ausschusses ist dazu folgende Begründung zu entnehmen:

„Der Fahrlehrerberuf erfordert eine erhebliche Gewandtheit in Wort und Schrift und die Fähigkeit, Zweifelsfragen rasch zu erkennen und klar zu beantworten. Der Fahrlehrer muss in der Lage sein, Erwachsene mit unterschiedlichen Bildungsgraden in den Abendstunden zu unterrichten und dabei auch schwierige Zusammenhänge auf dem Gebiete der Verkehrssicherheitslehre und des Verkehrsrechtes auf einfache Weise zu erläutern. Daher hält der Verkehrsausschuss eine Anhebung der Bildungsvoraussetzungen für den Fahrlehrerberuf durch Änderung des Artikels 1 Nr. 1a des Gesetzentwurfs für erforderlich. Einer abgeschlossenen Berufsausbildung – gleichgültig, in welchem Beruf – kommt ein eigenständiger Bildungswert zu, der beim Fahrlehrerberuf mindestens vorausgesetzt werden soll. Als gleichwertige Vorbildung im Sinne dieser Vorschrift soll ferner anerkannt werden zum Beispiel eine geeignete Tätigkeit bei der Bundeswehr, bei der Polizei oder beim Bundesgrenzschutz nach abgeschlossener Hauptschulbildung. Darüber hinaus ist als gleichwertige Vorbildung auch die allgemeine oder fachgebundene Hochschulreife – ohne zusätzliche Berufsausbildung – anzuerkennen.“ (BT-Drucksache 7/4238 vom 29.10.1975, S. 2).

Der Ausschuss stellte also maßgeblich darauf ab, dass von einem Fahrlehrer bestimmte Kenntnisse und Fähigkeiten wie die Gewandtheit in Wort und Schrift verlangt werden, die ein bloßer Hauptschulabschluss nicht vermitteln könne. Er ging weiter davon aus, dass eine Berufsausbildung einen eigenständigen Bildungswert besitze, der beim Fahrlehrerberuf Mindestvoraussetzung sein sollte. Wenn der Ausschuss neben der Berufsausbildung die allgemeine oder fachgebundene Hochschulreife nennt, so lässt er den Realschulabschluss außer Betracht. Es ist daher nicht auszuschließen, dass der Ausschuss der Auffassung war, bei einem Realschulabschluss sei ebenso eine zusätzliche Berufsausbildung erforderlich. Da der Gesetzgeber diesen Wortlaut in das Gesetz übernommen hat, spricht dies dafür, dass ein Realschulabschluss nach der alten Gesetzeslage nicht ausreichend für den Fahrlehrerberuf war.
Dieser Wortlaut änderte sich jedoch maßgeblich mit dem Gesetzgebungsverfahren im Jahr 2017. Denn seit der Gesetzesänderung, die am 01.01.2018 in Kraft trat, wurde die Voraussetzung eines Hauptschulabschlusses aus dem Wortlaut der Norm ersatzlos gestrichen.
Das Gesetzgebungsverfahren weist neue Begründungsstrukturen auf, die es zulassen, auch einen bloßen Realschulabschluss als Mindestvoraussetzung für den Fahrlehrerberuf anzusehen.

Rechtsmittel

Gegen den Gerichtsbescheid kann innerhalb eines Monats nach Zustellung die Zulassung der Berufung beantragt werden. Über die Zulassung der Berufung entscheidet der Hessische Verwaltungsgerichtshof. Die Berufung ist nur zuzulassen,

1. wenn ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Gerichtsbescheids bestehen,

2. wenn die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,

3. wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,

4. wenn der Gerichtsbescheid von einer Entscheidung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder

5. wenn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

Rückblick eines Zeitzeugen

Den Ausführungen des Gerichts ist noch anzufügen, dass die Bundesvereinigung der Fahrlehrerverbände e.V. 1975 dem Bundesverkehrsministerium vorgeschlagen hatte, als Vorbildung für angehende Fahrlehrer mindestens den mittleren Bildungsabschluss in das Fahrlehrergesetz aufzunehmen. Diesem Vorschlag des Berufsstandes wurde mit „Rücksicht auf die Durchlässigkeit des Systems und mit Blick auf Artikel 12 des Grundgesetzes“ nicht entsprochen. Einzige Vorbildungsvoraussetzung sollte deshalb der Hauptschulabschluss sein. Dies traf auf erheblichen Widerstand der Bundesvereinigung. Aus diesem Grund waren 1975 auf einer Sitzung der Bundesvereinigung sowohl der zuständige Referatsleiter des Bundesministeriums für Verkehr (BMV) als auch der damalige beamtete Staatssekretär im BMV, Heinz Ruhnau, zugegen. Die Debatte um die Vorbildung war sehr lebhaft, um nicht zu sagen kontrovers. Schließlich schlug Ruhnau vor, neben dem Hauptschulabschluss „mindestens eine abgeschlossene Berufsausbildung in einem anerkannten Lehrberuf“ als Vorbildungsvoraussetzung in das Fahrlehrergesetz aufzunehmen. Die Bedenken des Referatsleiters und der Bundesvereinigung dagegen wischte Ruhnau mit dem Einwand vom Tisch, wer in Hamburg zur Feuerwehr wolle, müsse seit eh und je Zeugnisse über einen erfolgreichen Hauptschulabschluss und einen abgeschlossenen Lehrberuf vorweisen.

So gelangte der „abgeschlossene Lehrberuf“ durch eine Basta-Entscheidung in den „Ausschuss für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen“ und schließlich in die Novelle zum Fahrlehrergesetz vom 3. Februar 1976.

GLH