Stoppstelle und Haltlinie: Wo ist anzuhalten bei Zeichen 206?

© FahrSchulPraxis - Entnommen aus Ausgabe Mai/2021, Seite 352

Ausgelöst durch einen Bericht des Kreisvereins Schwarzwald-Baar in der FahrSchulPraxis 04/2020, Seite 240 ff., der die zweckwidrige Auffassung einer Vertreterin des TÜV SÜD wiedergab, war diese Frage Gegenstand von zwei weiteren Beiträgen (FPX 07/2020, Seite 388 f. und FPX 11/2020, Seite 652 f.). Im folgenden Beitrag geht Werner Lange, seit 40 Jahren Dozent für Verhaltensrecht an einer renommierten Fahrlehrerausbildungsstätte, detailliert auf die Verhaltensregeln zu den Verkehrszeichen 206, 294 und 201 ein.

1. Zeichen 206 mit Haltlinie  

Das Haltgebot ist an der Haltlinie zu befolgen. Ist die Haltlinie nicht identisch mit der Sichtlinie, so ist nach dem Halten bis zur Sichtlinie vorzufahren. Dort muss, sofern es der bevorrechtigte Verkehr zulässt, nicht noch einmal gehalten werden.

Siehe auch VwV zu Zeichen 206.

 

2. Zeichen 206 ohne Haltlinie  

Das Haltgebot ist an der Stelle zu befolgen, wo die Querstraße zuverlässig überblickt werden kann (Sichtlinie).

Siehe auch VwV zu Zeichen 206.

 

3. Zeichen 206 i.V.m. Lichtzeichenregelung  

Lichtzeichen in Betrieb
Solange die Lichtzeichen in Betrieb sind, gelten deren Anordnungen (§ 37 Absatz 1 StVO).

Den Punkt, wo zu halten ist, nennt § 37 StVO nicht. Deshalb muss ergänzend zu dieser Vorschrift das Zeichen 294 eingesetzt werden.

Lichtzeichen außer Betrieb
Sind die Lichtzeichen außer Betrieb, muss man sich wie bei 2. verhalten.

Hier steht die Haltlinie nicht in Verbindung zum Zeichen 206. Dies erkennt man daran, dass die Linie vor der Ampelanlage und damit vor dem Stoppschild angebracht ist. Gleiches weist die Verwaltungsvorschrift zu § 37 zu Absatz 2 RN 6 StVO aus: „Die Haltlinie (Zeichen 294) sollte nur so weit vor der Lichtzeichenanlage angebracht werden, dass die Lichtzeichen aus einem vor ihr wartenden Personenkraftwagen noch ohne Schwierigkeit beobachtet werden können (…)“.

 

Was sagen TÜV, Ministerien, Polizeibehörde, Bundesländer, Kommentatoren?

Seit der StVO-Änderung vom 01.04.2013 wird häufig die Auffassung vertreten, aus dem Text zu Zeichen 294 ergebe sich zweifelsfrei, dass in jedem Fall an der Haltlinie anzuhalten sei. Unterstützung findet diese Ansicht durch verschiedene Kommentare, ebenso durch Äußerungen des TÜV SÜD und des VM Baden-Württemberg. Bei näherer Betrachtung der Inhalte ergibt sich meiner Meinung nach aber eine fehlerhafte wie unvollständige Lesart. Meine Auffassungen bei der Interpretation des Sachverhalts werden geteilt durch den Fahrlehrerverband Baden-Württemberg e.V. und den Kommentar von Hentschel/König/Dauer, 45. Auflage 2019, ebenso von Peter Tschöpe (FPX 11/2020 S. 652 f.) sowie vom Bund-Länder-Fachausschuss (BLFA).

Das sind die Fakten

Der Auslöser Zeichen 294 Haltlinie Anlage 2 Abschnitt 9 Markierungen
 

bis 31.03.2013 seit 01.04.2013 Anmerkungen

Ergänzend zu Halt- und Wartegeboten, die durch Zeichen 206, durch Polizeibeamte oder Lichtzeichen gegeben werden, ordnet sie an: „Hier halten!“

Dasselbe gilt vor Bahnübergängen für den, der warten muss (§ 19 Absatz 2).

Ge- oder Verbot
Ergänzend zu Halt- oder Wartegeboten, die durch Zeichen 206, durch Polizeibeamte, Lichtzeichen oder Schranken gegeben werden, ordnet sie an:

Wer ein Fahrzeug führt, muss hier anhalten.

Erforderlichenfalls ist an der Stelle, wo die Straße eingesehen werden kann, in die eingefahren werden soll (Sichtlinie), erneut anzuhalten.

Die Unterschiede zwischen der alten und der neuen Textfassung sind marginal. Der einfache Verkehrsteilnehmer wird wohl keinen Unterschied ausmachen.

Zu beachten ist aber die Tatsache, dass in der Abbildung die Haltlinie weiterhin nach dem Zeichen 206 angebracht ist. Die Darstellung wurde nicht verändert, und das ist sicher kein Zufall!

In der alten Fassung wird bei Bahnübergängen auf den § 19 Absatz 2 hingewiesen. Damit sind alle Wartemöglichkeiten angesprochen (Bahnbediensteter, rote oder gelbe Lichtzeichen, wenn sich ein Zug nähert …)

 

Aktuell wird nur von Schranken gesprochen und nicht mehr vom Bahnübergang mit dem Verweis auf § 19 Absatz 2. Wird an Bahnübergängen nur noch bei Schranken eine Haltlinie vorgesehen, sind unabhängig von Bahnübergängen alle Formen von Schranken gemeint, oder ist das Ganze nur ein Versehen? Im Text wird außerdem von „erforderlichenfalls“ gesprochen. Damit meint man wohl die jeweilige Situation, die ein weiteres Anhalten nötig macht (z.B. Querverkehr, Sichtprobleme). Von einem zwingenden zweiten Halten kann nicht die Rede sein!

 

Auswirkung auf die angeführten Einzelfälle
(Was heißt „ergänzend“ in diesem Zusammenhang?)

Zeichen 206 Halt. Vorfahrt gewähren   Anlage 2 Abschnitt 1

Was? Wo anhalten? Anmerkungen

1. Wer ein Fahrzeug führt, muss anhalten und Vorfahrt gewähren.

2. ...

3. Ist keine Haltlinie (Zeichen 294) vorhanden, ist dort anzuhalten, wo die andere Straße zu übersehen ist.

Die Frage, an welcher Stelle beim Zeichen 206 dem Haltgebot nachgekommen werden muss, bleibt im Text unbeantwortet.
Eine Aussage ist nur für den Fall getroffen, wo eine Haltlinie fehlt.

 

Hier muss die Vorgabe des Zeichens 294 ergänzend eingreifen.
Diese besagt, dass an der Haltlinie angehalten werden muss. Gleichzeitig zeigt die Abbildung, dass ein Zusammenhang zwischen dem Haltgebot und der Haltlinie dann besteht, wenn die Haltlinie nach dem Zeichen 206 angebracht ist.

 

Verwaltungsvorschriften zu Zeichen 206  

II. Zusätzlich ist im Regelfall eine Haltlinie (Zeichen 294) dort anzubringen, wo der Wartepflichtige die Straße übersehen kann. Bei einem im Zuge der Vorfahrtstraße (Zeichen 306) verlaufenden Radweg ist die Haltlinie unmittelbar vor der Radwegefurt anzubringen.

Diese Aussage unterstreicht das oben Gesagte. Die Haltlinie soll möglichst nahe an der Sichtlinie liegen, also im Regelfall hinter dem Zeichen 206.

Eine solche Stelle, allerdings ohne Haltlinie, hat sich jahrelang in der Nähe des Regierungspräsidiums in Stuttgart-Vaihingen ergeben. In der praktischen Fahrlehrerprüfung gab es anfänglich unterschiedliche Ansichten.
Wo muss gehalten werden? Vor oder hinter dem Radweg? Nach Gesprächen mit dem Prüfungsausschuss haben wir eine gemeinsame Lösung gefunden.

Bei einer kreuzenden Radwegefurt im Zuge einer Vorfahrtstraße ist im Interesse der Sicherheit für Radfahrende die Haltlinie vor dieser Furt anzubringen (aber ohne Bezug zu einer Lichtzeichenanlage!)

Verwaltungsvorschriften zu Zeichen 205 und 206  

IV. Wo eine Lichtzeichenanlage steht, sind die Zeichen in der Regel unter oder neben den Lichtzeichen am gleichen Pfosten anzubringen.

Diese Aussage bezieht sich nur auf die Frage, wo das Zeichen 206 angebracht werden soll. Ein Bezug zur Haltlinie ist damit aber nicht gegeben. (Ersparnis eines zusätzlichen Pfostens, Verhinderung von Auffahrunfällen bei unterschiedlicher Aufstellung?)

 

Bahnübergänge § 19 StVO (oder Schranken?)    
Was? Wo anhalten? Anmerkungen

Absatz 2: Fahrzeuge haben vor dem Andreaskreuz, zu Fuß Gehende in sicherer Entfernung zu warten, wenn
1. ...
2. ...
3. die Schranken sich senken oder geschlossen sind ...

oder generell, wenn Schranken vorhanden sind (unabhängig von einem Bahnübergang).

An welcher Stelle dem Wartegebot nachgekommen werden muss, bleibt jeweils offen.

Hier wird die Ergänzung durch Zeichen 294 benötigt. Das Anhalten ist damit auf eine eventuell vorhandene Haltlinie bezogen.

Zeichen und Weisungen der Polizeibeamten § 36 StVO    
Was? Wo anhalten? Anmerkungen

Absatz 2: An Kreuzungen ordnet an:
1. Seitliches Ausstrecken eines Armes oder beider Arme quer zur Fahrtrichtung: „Halt vor der Kreuzung“.

Auch hier bleibt die Frage, an welcher Stelle dem Haltgebot nachgekommen werden muss, offen.

Hier wird die Ergänzung durch Zeichen 294 benötigt.
Das Anhalten ist damit auf die vorhandene Haltlinie bezogen.

Wechsellichtzeichen, Dauerlichtzeichen § 37 StVO    
Was? Wo anhalten? Anmerkungen

Absatz 2 Nr. 1: ... Rot ordnet an: „Halt vor der Kreuzung“.

Auch hier bleibt die Frage, an welcher Stelle dem Haltgebot nachgekommen werden muss, offen.

Hier wird die Ergänzung durch Zeichen 294 benötigt.
Das Anhalten ist damit auf eine vorhandene Haltlinie bezogen. (Siehe auch Grünpfeilregelung!)

Verwaltungsvorschriften zu § 37  

Zu Absatz 2 IV:
Die Haltlinie (Zeichen 294) sollte nur soweit vor der Lichtzeichenanlage angebracht werden, dass die Lichtzeichen aus einem vor ihr wartenden Pkw noch ohne Schwierigkeit beobachtet werden können (...).

Die vorhandene Haltlinie hat offensichtlich nur Bezug auf die Lichtzeichenanlage.
Das Zeichen 206 findet keine Erwähnung.

 

Und jetzt – Lösungen?

Festzuhalten ist, dass es in den Fällen einer vorhandenen oder fehlenden Haltlinie bei alleinstehendem Zeichen 206 wohl keine großen Diskrepanzen gibt. Die eigentliche Problematik tritt erst bei der Verbindung zu einer Lichtzeichenanlage auf.

Streitpunkt ist die folgende Situation:

3. Zeichen 206 in Verbindung mit einer Lichtzeichenregelung  

Lichtzeichen in Betrieb
Solange die Lichtzeichen in Betrieb sind, gelten deren Anordnungen (§ 37 Absatz 1 StVO).

Der Punkt, wo gewartet werden muss, wird in § 37 StVO aber nicht direkt geregelt, sondern ergibt sich aus der Erläuterung zu Zeichen 294. Dadurch ist eine angebrachte Haltlinie eindeutig der Lichtzeichenanlage zugeordnet.

Lichtzeichen außer Betrieb
Entsprechend des Anbringungsbeipiels einer Haltlinie (Zeichen 294) im Zusammenhang mit Zeichen 206 verfügt die „Stoppstelle“ in diesem Fall über keine Haltlinie. Es muss also an der Sichtlinie gehalten werden.

In der Praxis wird allerdings die Frage, wo in einem solchen Fall erstmalig gehalten werden muss, sehr unterschiedlich beurteilt.

 

Wie die verschiedenen Auffassungen zeigen, ist man sich in der Sache nicht einig. Das BMVI sieht hier auf Anfrage immer eine Entscheidung je nach Situation vor Ort. Wie soll die aussehen? Klar ist aber doch, dass diese Diskussion nicht zur Benachteiligung von Fahrschülern in der Fahrerlaubnisprüfung führen darf. Prüforganisationen und Fahrschulen müssen sich auf eine gemeinsame Regelung einigen oder, wenn dies nicht möglich erscheint, darf die Sichtweise der ausbildenden Fahrschule dem Bewerber nicht angelastet werden! Die Feststellung von Peter Tschöpe hierzu (FPX 11/2020, Seite 652) ist nur zu unterstützen.

Jedenfalls wäre es begrüßenswert, wenn der Verordnungsgeber hier eine textliche Klarstellung in die StVO einbringen würde. Die letzten Änderungen der StVO zeigen durchaus seinen Willen, Regelungen über den Praxisalltag und die Rechtsprechung hinaus zu präzisieren. Als Beispiele mögen die neu eingeführten besonderen Schutzvorschriften für Radfahrende in § 5 Absatz 4 und § 9 Absatz 6 sowie die Einführung des Zeichens 277.1 in der Anlage 2 zu § 41 dienen.

Werner Lange