EDITORIAL: StVO: Immer leicht verständlich?

© FahrSchulPraxis - Entnommen aus Ausgabe Februar/2023, Seite 61

Jochen Klima, Vorsitzender des Fahrlehrerverbandes Baden-Württemberg e.V.Liebe Leserinnen und Leser,

am 1. März 1971, also vor mehr als 50 Jahren, trat die neue StVO in Kraft, mit der die antiquierte Straßenverkehrs-Ordnung von 1937 abgelöst wurde. Die „Neue Ordnung im Verkehr“, so kündigte die Bundesregierung das Reformwerk an, gab der StVO eine der Verkehrsentwicklung angepasste Struktur, brachte neue Verkehrszeichen, z. B. das achteckige STOP-Schild, und „legalisierte“ in der Praxis längst bewährte Verhaltensweisen. Der damalige Bundesverkehrsminister Georg Leber rühmte das neue Regelwerk als leicht lesbares, verständliches Volksgesetz. Deshalb die Frage: Genügt die heutige Fassung der StVO diesem Anspruch noch?

  • Für einspurige Kraftfahrzeuge sind sog. Winterreifen nicht vorgeschrieben; wahrscheinlich werden solche auch nirgends angeboten. § 2 Absatz 3a Satz 4 Nr. 1 StVO verbietet 16-jährigen Inhabern der Fahrerlaubnis Klasse A1 nicht, bei Schnee und Eis mit ihrem Leichtkraftrad zur Ausbildungsstelle zu fahren. Der Verordnungsgeber verlangt allerdings von ihnen, „die Fahrt nur dann anzutreten, wenn sie vor Antritt jeder Fahrt geprüft haben, ob es erforderlich ist, die Fahrt durchzuführen, da das Ziel mit anderen Verkehrsmitteln nicht erreichbar ist“. Die Verordnung bleibt hier zweideutig. Wäre es nicht klarer, das Führen einspuriger Kraftfahrzeuge unter solchen Straßenverhältnissen zu verbieten?

  • § 7a Absatz 1 erlaubt auf sog. „abgehenden Fahrstreifen“ ab dem Beginn der breiten Leitlinie das Rechtsüberholen (rechts schneller als links). Gleiches gilt, wenn Richtungspfeile (Zeichen 297) vorhanden sind. Auf praktisch gleich aussehenden Ausfädelstreifen (früher: Verzögerungsstreifen) ist dies gemäß Absatz 3 jedoch verboten; es mag sein, dass dafür nachrangige Sicherheitsüberlegungen eine Rolle spielen. In der Realität allerdings scheint der überwiegende Teil der Verkehrsteilnehmer mit dem Auseinanderhalten dieser drei Varianten überfordert zu sein. Denn es ist zu beobachten, dass auch auf dem Ausfädelungsstreifen vielfach rechts schneller gefahren wird als links. Wäre es nicht an der Zeit, die in aller Regel verantwortungsvollen Kraftfahrer von komplizierten rechtlichen Regeln zu entlasten?

  • Ein weiteres Beispiel finden Sie auf Seite 80 dieser Ausgabe der FahrSchulPraxis. Dort berichten wir über die „neue“ Auslegung des § 9 Absatz 6 StVO zum Abbiegen mit Schrittgeschwindigkeit für Kraftfahrzeuge mit mehr als 3.500 kg zGM.

Vielleicht sollte man gelegentlich an den alten Grundsatz erinnern, dass Vorschriften am sichersten dann eingehalten werden, wenn sie leicht verständlich sind und Einsicht in die Regelung vermitteln.

In diesem Sinne grüße ich Sie sehr herzlich.

Ihr

Jochen Klima

Foto: Jochen Klima, Vorsitzender des Fahrlehrerverbandes Baden-Württemberg e.V.