Möglichkeiten und Grenzen der Fahrausbildung behinderter Menschen
© FahrSchulPraxis - Entnommen aus Ausgabe August/2001, Seite 420
Motorisierte Mobilität ist ein bedeutendes Stück Lebensqualität. Sie auch behinderten Menschen zugänglich zu machen, ist für Fahrlehrer eine herausfordernde Aufgabe, die besondere Kompetenz verlangt. Herbert Bühler, seit vielen Jahren erfolgreich auf diesem Gebiet tätig, will mit diesem und weiteren Beiträgen Handreichungen für die Ausbildung behinderter Menschen geben.
Die heutzutage verfügbare Technik ermöglicht vielen Behinderten motorisierte Mobilität, wie dies noch vor wenigen Jahren undenkbar erschien. Automatisches Getriebe, Servolenkung sowie Außenspiegel, Fensterheber und Sitze mit elektrischer Einstellung gehören heute schon zur Grundausstattung vieler Pkw. Behinderte, die selbst Auto fahren wollen, benötigen darüber hinaus bestimmte Zusatzeinrichtungen, mit denen sie ihr Handikap kompensieren können.
Dies können Handgeräte für Gas und Bremse, linksseitiges Gaspedal, elektronische Fahrhilfen, leichtgängige Servolenkungen, verstärkte Bremsanlagen, funkgesteuerte Primärfunktionen, Linear-, Hebel-, Joystik- oder andere Lenksysteme sein. Sich mit dem elektrischen Rollstuhl selbstständig hinter dem Lenkrad eines Van positionieren zu können, ist längst Stand der Technik. Individuelle Anpassungen ermöglichen selbst Schwerstbehinderten das Autofahren und erweitern somit ihre Mobilität.
Wo liegen die Grenzen?
Wo aber liegen die Grenzen des Machbaren? Ist es die Technik? Oder der Grad der Behinderung? Oder etwa nur das Geld? Wie so oft, es kann von jedem etwas sein. Die technischen Möglichkeiten habe ich schon angesprochen. Man kann davon ausgehen, dass sich heute fast jedes technische Problem lösen lässt. Bleiben der Mensch und die Kosten. Dies vorweg:
Menschen wie du und ich
Die schwierigsten Aufgaben stellt der Mensch. Behinderte sind, abgesehen von ihrem Handikap, Menschen wie du und ich. Sie haben Schwächen und Stärken, Vorlieben und Abneigungen, und sie sind unterschiedlich begabt, gerade auch was den Umgang mit der Technik betrifft. All dies wissen wir aus unserer langjährigen Tätigkeit als Fahrlehrer nur zu gut. Man muss aber sehen, dass es signifikante Unterschiede gibt zwischen Menschen, deren Behinderung erst nach der Pubertät eintrat und solchen, die schon vor oder kurz nach der Geburt (prä- oder postnatal) dieses Schicksal erlitten. Letztere haben es noch einmal schwerer, da ihre persönliche Entwicklung auf Grund der schweren Bewegungseinschränkung große Defizite an eigener Bewegungserfahrung aufweist. Häufig fehlt es auch an der Fähigkeit zur bewussten und disziplinierten Auseinandersetzung mit ihren eingeschränkten funktionellen Möglichkeiten. Dies gilt vor allem bei spina bifida (Wirbelsäulenspaltbildung), eine Form der Querschnittlähmung, und der infantilen Zerepralparese (Spastiker).
Am Ende meines Lateins
In diesem Beitrag möchte ich auf Wunsch vieler Kolleginnen und Kollegen auf die spastische Lähmung (infantile Zerepralparese) eingehen. "Ich weiß nicht mehr was ich machen soll, am Anfang dachte ich, der kann nur seine Beine nicht richtig bewegen, deswegen wurde die Ausbildung ja auch auf einem behindertengerechten Fahrzeug durchgeführt, aber je mehr Stunden ich fahre, umso schwieriger wird es. Nach nunmehr 160 Fahrstunden bin ich am Ende meines Lateins. Was soll ich tun?" So oder ähnlich lauten die Fragen, die mir immer wieder gestellt werden.
Falsche Einschätzung
Was ist falsch gelaufen? Wurde der Grad der Behinderung, auch deren psychische Auswirkungen, falsch eingeschätzt? Um dies besser verstehen zu können, muss ich etwas ausholen. Spastiker haben sehr häufig Probleme der Wahrnehmung, diese ist aber - wie wir alle wissen - eine für die Teilnahme am motorisierten Straßenverkehr sehr wichtige Fähigkeit. Das Maß der Wahrnehmungsfähigkeit des Behinderten richtig zu erkennen, ist bei der praktischen Ausbildung eine der ersten Aufgaben des Fahrlehrers. Prof. Dr. Stotz führt hierzu aus: "Unter Wahrnehmungsstörungen (Perzeptionsstörungen), versteht man eine fehlerhafte Aufnahme und Weiterverarbeitung von Sinneswahrnehmungen. Diese können taktil (Tastsinn), auditiv (Gehör) und oder visuell (Sehen) in Bezug auf den eigenen Körper, seiner Umwelt und seine Beziehungen zur Umwelt sein. Störungen der Perzeption können auf allen Stufen der Wahrnehmung eintreten, haben die Ursache aber vor allem in zentralen Koordinationsdefiziten. Die einmal gemachten Erfahrungen können nicht oder nur mangelhaft umgesetzt und gespeichert werden, sodass das Körperschema und die Orientierung im Raum, gelegentlich auch in der Zeit, schwer gestört sein kann. Diese Störung der Körper- und Raumwahrnehmung, der Seitendominanz und der Rechts-/Linksunterscheidung führt zu einer Einschränkung der gesamten psychomotorischen Leistungsfähigkeit. Es handelt sich dabei oft um klinisch nicht oder kaum sichtbare Symptome einer gestörten Hirnleistung, die erst in bestimmten Situationen manifestiert werden."
85 Prozent sind ungeeignet
Wissenschaftliche Untersuchungen ergaben, dass 85 % der Tetraspastiker zur Erlangung der Fahrausbildung Klasse B nicht geeignet sind. Von den eventuell bedingt geeigneten sind 10% an sehr schweren Unfällen beteiligt; und nur 5% fahren so gut oder schlecht wie die übrigen Verkehrsteilnehmer. Nach über 25-jähriger Erfahrung in der Ausbildung von behinderten Fahrerlaubnisbewerbern und Fahrerlaubnisinhabern kann ich diese Erfahrung unterstreichen. Fahrproben zur Beurteilung, ob ein Tetraspastiker ausgebildet werden kann oder nicht, habe ich schon vor vielen Jahren aufgegeben, weil dies aus meiner Sicht nicht möglich ist. Was festgestellt werden kann, ist, welche Hilfsmittel eventuell benötigt werden. Um eine möglichst objektive Beurteilung abgeben zu können, müssen die Bewerber während mindestens einer oder besser zwei Wochen an mehreren Tagen zu unterschiedlichen Tageszeiten fahren, dabei müssen ihnen bestimmte Aufgaben gestellt werden. Verschiedene Tests geben Hinweise auf Defizite oder - wie oben erwähnt - auf Schwierigkeiten der Wahrnehmung.
Ist eine zuverlässige Prognose möglich?
Nichteignung kann der erfahrene Ausbilder möglicherweise relativ rasch erkennen; er wird sich aber immer schwer tun einzuschätzen, ob eine Ausbildung erfolgreich enden wird. Die Ausbildung der von Geburt an Behinderten erfordert enorme Kenntnisse und Erfahrung und muss im Interesse der Allgemeinheit, aber auch der Betroffenen, u.U. auch nach vielen Fahrstunden abgebrochen werden. Nach meiner Auffassung sollte spätestens zwischen 60 und 100 Ausbildungsstunden die Entscheidung getroffen werden, ob es lohnt weiterzumachen oder nicht. Diese muss auf einer gründlichen Analyse, die unter Ausschöpfung aller Möglichkeiten anzustellen ist, beruhen. Das Ergebnis muss so aussagekräftig sein, dass auch der Proband es versteht und seine Nichteignung einzusehen vermag. Die rechtzeitige Einbeziehung des Schülers in den Entscheidungsprozess hilft ihm u.a., seine Defizite selbst zu erkennen. Jede Entscheidung kann aber nur eine individuelle, auf den einzelnen Bewerber bezogene sein; Verallgemeinerungen müssen dringend unterbleiben, sie führten zwangsläufig zu negativen Ergebnissen.
Die Frage des Geldes
Eine dritte Größe ist die Finanzierbarkeit der angestrebten Maßnahme. Grundsätzlich sollte vor Beginn der Ausbildung immer eine Beratung durchgeführt werden. So hat man Zeit, sich mit eventuellen Schwierigkeiten an kompetente Stellen wenden zu können. Im Übrigen verweise ich auf das von der DEUTSCHEN FAHRLEHRER-AKADEMIE E. V. herausgegebene Buch "Mobilitätsbehinderte und Kraftfahrzeug“, das u.a. auch Hinweise über Finanzierungshilfen enthält (u.a. erhältlich bei der FSG/TTVA mbH).
Herbert Bühler
Behindertenreferent des Fahrlehrerverbandes Baden-Württemberg e.V.