15.09.2021

(2516) Elfjähriges Kind überquert unvorsichtig eine Straße - mitschuldig?

Der Fall   An einem nassen und dunklen Morgen im Dezember 2012 kurz vor Schulbeginn wurde ein elfjähriges Kind von einem Fahrzeug erfasst, als es eine Straße überqueren wollte, um nicht den Anschluss an seine drei Freunde zu verlieren. Der Fahrzeugführer hatte bereits die ersten Kinder beim Überqueren der Fahrbahn gesehen, dennoch fuhr er mit überhöhter Geschwindigkeit weiter, was schließlich zum Unfall mit dem Kind führte. Das Kind erhob aufgrund des Unfalls Klage auf Zahlung von Schadenersatz und Schmerzensgeld gegen den Fahrzeugführer und dessen Haftpflichtversicherung. Nach dem das Landgericht Verden erstinstanzlich über den Fall entschieden hatte, musste das Oberlandesgericht Celle eine Entscheidung treffen.

Das Urteil   Das Oberlandesgericht Celle entschied zu Gunsten des Kindes. Ihm stehe der Anspruch auf Schadenersatz und Schmerzensgeld zu. Der beklagte Fahrzeugführer hafte vollständig für die Unfallfolgen. Ihm sei ein Verstoß gegen § 3 Absatz 2a StVO vorzuwerfen. Der Beklagte habe damit rechnen müssen, dass sich noch weitere Kinder auf der Fahrbahn befinden und dies zum Anlass nehmen müssen, sein Fahrverhalten sofort anzupassen und die Geschwindigkeit deutlich zu reduzieren. Notfalls hätte er anhalten müssen, bis er eine Übersicht über die Situation gehabt hätte. Zudem sei ihm wegen der Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit ein Verstoß gegen § 3 Absatz 3 Nr. 3 StVO vorzuwerfen. Ein Sachverständiger stellte fest, dass der Unfall bei Einhaltung der zulässigen Geschwindigkeit verhindert worden wäre.
Dem Kind sei kein Mitverschulden wegen des unvorsichtigen Überquerens der Fahrbahn anzulasten. Die Fehleinschätzung des Kindes in Bezug auf die Entfernung und Geschwindigkeit des Fahrzeugs begründe in der Gesamtschau mit dem kindlichen Alter und der gruppendynamischen Situation kein Verschulden. Der Unfall sei auf typisch kindlich unbesonnenes Verhalten zurückzuführen. Die Verkennung der wahren Verkehrslage, insbesondere die fehlerhafte Einschätzung von Geschwindigkeiten und Abständen, sei geradezu ein Merkmal der noch in ihrer Entwicklung befindlichen eingeschränkten kindlichen Wahrnehmungsfähigkeit. Selbst wenn man ein Mitverschulden bejahen würde, würde dies hinter dem überragenden Verschulden des Beklagten zurücktreten.

Oberlandesgericht Celle
- Urteil vom 19.05.2021 -
Az. 14 U 129/20