Zur Zukunft des Online-Theorieunterrichts: Ja zum "Blended Learning"
Nicht erst seit der Covid-Pandemie gibt es Bestrebungen, den Theorieunterricht im Rahmen des Fahrerlaubniserwerbs online zu ermöglichen. Allerdings befürwortet die überwiegende Mehrheit nach wie vor den Theorieunterricht in Präsenz. Entsprechend wird „gemischtes Lernen“ bzw. „Blended Learning“ als optimal angesehen. Dazu muss jedoch künftig verbindlich in der Fahrschüler-Ausbildungsordnung festgeschrieben werden, welche Inhalte in Präsenz, welche im E-Learning vermittelt werden.
Die Qualität der Fahrausbildung zeigt sich immer sowohl in einem ausgezeichneten praktischen wie auch theoretischen Unterricht. Ohne das eine ist das andere nicht möglich. Aber auch der Theorieunterricht selbst ist keine Einbahnstraße. So hat sich der Deutsche Verkehrssicherheitsrat (DVR) bereits 2021 klar für eine zielgerichtete Kombination von Präsenztheorieunterricht und E-Learning ausgesprochen. Eine vollständige Durchführung des theoretischen Unterrichts mittels E-Learning im Rahmen der Fahrausbildung lehnt der DVR indes strikt ab. Seinerzeit hat der DVR dem Bundesministerium für Digitales und Verkehr bereits empfohlen, zeitnah ein wissenschaftlich begründetes Blended-Learning-Konzept auszuarbeiten und hinsichtlich seiner Lernwirksamkeit im Rahmen eines wissenschaftlichen Pilotprojektes zu evaluieren. Darüber hinaus riet der DVR dem Ministerium dazu, festzuschreiben, welche Inhalte zwingend im Rahmen eines Präsenzunterrichts in der Fahrschule und welche Inhalte im E-Learning behandelt werden sollten. Die Teilnahme an einer virtuellen Fahrschulunterrichtseinheit wäre dann mit der Teilnahme an einer Unterrichtseinheit in Präsenz für den definierten Inhalt gleichzustellen. Wie es im Beschluss des DVR vom 25. Oktober 2021 weiter heißt, sollte das Bundesministerium für Digitales und Verkehr außerdem auf wissenschaftlicher Basis Qualitätsstandards für das E-Learning und den Präsenzunterricht vorgeben. Zudem wurde den Ländern bzw. verantwortlichen Stellen empfohlen, nur solche Blended-Learning-Angebote für die theoretische Fahrausbildung anzuerkennen, die auf wissenschaftlicher Basis entwickelte Qualitätsstandards erfüllen. Aufgrund der Tatsache, dass mit der Einführung eines Blended-Learning-Konzeptes ein Wandel der Rolle der Fahrlehrer und Fahrlehrerinnen verbunden ist, da Lehrende nun als Lernbegleitende des E-Learnings gelten und den Präsenzunterricht an die Ergebnisse des E-Learnings anpassen müssen, sollte laut DVR zudem ein umfassendes Aus- und Fortbildungsangebot für Fahrlehrer und Fahrlehrerinnen geschaffen werden. Last, but not least empfiehlt der DVR dem Ministerium, wissenschaftlich zu prüfen, ob ein rein digitaler Unterricht vergleichbare Lernerfolge aufzeigen kann und falls ja, welche Mindestvoraussetzungen dafür notwendig wären. Anlässlich der Bundesverkehrsministerkonferenz vom 22./23. März 2023 wurde das Thema „Optimierung der Fahrschulausbildung“ bzw. das Thema „Online-Fahrschulunterricht“ unter Top 6, Punkt 7 behandelt (Anm.: Zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe lagen leider noch keine Ergebnisse vor. Wir berichten daher erst in der kommenden Ausgabe über die neuesten Beschlüsse).
Isabella Finsterwalder
Interview
Verkehrspädagoge Michael Fingskes zu „Möglichkeiten und Grenzen des Online-Theorieunterrichts”
FPX: Das Thema zielgerichtete Kombination von Präsenz-Theorieunterricht und E-Learning im Fahrschulunterricht ist nicht neu. Gleichwohl beschäftigt es die Branche seit der Covid-Pandemie mehr denn je. Wie stehen Sie als Pädagoge zum Thema des digitalen Fahrschulunterrichts?
Michael Fingskes: Zunächst erscheint mir hier eine Begriffseinordnung sinnvoll: Präsenzunterricht und Online-Learning lassen sich ja grundsätzlich leicht anhand ihrer Wortbedeutung voneinander abgrenzen. Der Präsenzunterricht findet mit Lehrer und Teilnehmern in Anwesenheit aller vor Ort statt. Am Online-Unterricht hingegen nehmen Fahrlehrer und Fahrschüler von physisch getrennten Orten aus virtuell teil, wobei sie über das Internet, ein Endgerät (Smartphone, Computer) und ein entsprechendes Programm verbunden sind. In Bezug auf den Theorieunterricht in der Fahrschule scheint mir jedoch vor allem eine Differenzierung zwischen den zwei Themenbereichen Online-Learning und Blended Learning wichtig. Zunächst einmal zum Thema Online-Learning. Dies ist in der Fahrlehrerschaft überhaupt erst durch Corona ein Thema geworden. Präsenzunterricht war nicht möglich, und aus der Not heraus wurde der Theorieunterricht online abgehalten – und zwar bis zum Ende der Pandemie überwiegend als abgefilmter Frontalunterricht. Das war technisch relativ einfach umsetzbar: Fahrlehrerinnen und Fahrlehrer haben ihre theoretischen Unterrichtsstunden in ihrer Fahrschule mit Tafel oder anderen Medien abgehalten und sich dabei gefilmt. Neben möglichen technischen Unzulänglichkeiten besteht das große Problem dieser Form des Unterrichts aber darin, dass man gar nicht richtig abschätzen kann, wie diese Art des Unterrichts auf Seiten der Fahrschüler aussieht. Steht dem Schüler als Endgerät ein Smartphone, ein Tablet oder aber ein Computer zur Verfügung? Zeigt der Fahrlehrer während der Stunde etwa ein Bild mit einer bestimmten Verkehrssituation, kommt man am Computer wahrscheinlich gut mit, wohingegen sich auf einem Handy viele Einzelheiten gar nicht erkennen lassen. Diese Art des Unterrichts – und das haben mir alle Fahrlehrer, mit denen ich seit der Pandemie darüber gesprochen habe, bestätigt – war also allenfalls eine unbefriedigende Notlösung.
Gab es auch Positivbeispiele?
Definitiv! Es gab auch Fahrschulen, die das Thema Theorieunterricht während der Pandemie sehr offensiv angegangen sind. Manche haben sogar nicht nur ein Programm, sondern verschiedene Kommunikationsprogramme ausprobiert, die u.a. verschiedene Möglichkeiten bieten, miteinander zu interagieren. Dadurch konnte man teilweise sogar Kleingruppen bilden, sodass die Teilnehmer gemeinsam Lerninhalte erarbeiten konnten. Auch in der FahrSchulPraxis wurde in mehreren Artikeln die ganze Bandbreite des Themas abgebildet. In der März-Ausgabe 2021 etwa gab es einen Artikel über eine Freiburger Fahrschule, die zusammen mit einem Softwareunternehmen mehrere Programme ausprobiert und die Fahrschule entsprechend hergerichtet hat. Den Online-Unterricht haben dort immer zwei Fahrlehrer gleichzeitig durchgeführt, wodurch einer mehr die Fahrschüler im Blick behalten und der andere den Fokus stärker auf die Präsentation und Visualisierung des Unterrichtsstoffs legen konnte. Entsprechend zufrieden zeigten sich die Fahrschüler auch mit diesem engagierten Theorieunterricht. Zugleich war der Aufwand seitens der Fahrschule jedoch enorm.
Wird diese Art des Online-Learnings auch jetzt nach der Pandemie fortgeführt?
Nein, reiner Online-Unterricht wird zurzeit gar nicht abgehalten, denn es gibt eine neue bundesweite rechtliche Regelung, dass Online-Unterricht nur dann erlaubt ist, wenn Präsenzunterricht nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich ist. Diese Voraussetzung ist ja durch die Beendigung der Coronamaßnahmen in Fahrschulen weggefallen.
Eine Alternative zu dieser von Ihnen beschriebenen Form des Online-Unterrichts sehen Sie im Blended Learning. Worum handelt es sich dabei genau und ist es aus pädagogischer Sicht besser geeignet für den theoretischen Unterricht im Rahmen des Fahrerlaubniserwerbs?
Ich würde das nicht als „Alternative“ bezeichnen. Die Gemeinsamkeit besteht darin, dass die Fahrschüler zwingend elektronische Endgeräte benötigen, was heute wohl keine größere Schwierigkeit mehr darstellen dürfte. Ansonsten aber sind es zwei völlig unterschiedliche Dinge. „Blended“ heißt im Englischen „gemischt“, Blended Learning ist somit „gemischtes Lernen“. Man geht in die Fahrschule und nimmt am Unterricht teil, aber um die Prüfung zu bestehen, arbeitet man mit dem Lehrbuch und lernt die Führerschein-Prüfungsfragen und bereitet sich so selbstständig vor. Doch natürlich gibt es heute ganz andere Möglichkeiten als papierene Übungsbogen: Um sich auf die Prüfungsfragen vorzubereiten, existieren zahlreiche Apps und entsprechende Programme auch von den Lehrmittelherstellern, mit denen die Fahrlehrer ebenfalls im Unterricht arbeiten. Doch beim Blended Learning, wie wir es heute verstehen, bleibt die Einzelarbeit dem Schüler nicht vollständig allein überlassen. Blended Learning als Ausbildungsmethode bedeutet vielmehr, dass dieser Eigenanteil vom Fahrlehrer, der den Theorieunterricht gibt, bewusst gesteuert werden will.
Wie sollte gesteuertes Blended Learning aussehen?
Generell lassen sich hier drei Stufen des Blended Learnings unterscheiden. Bei der ersten Stufe gibt der Fahrlehrer Theorieunterricht, kommt aber, wenn er diesen gut macht, mit dem für diesen Abend vorgesehenen Stoff nicht durch. Im Frontalunterricht mag das Pensum zu schaffen sein, aber in dem Augenblick, in dem Kleingruppenarbeit stattfindet, der Fahrlehrer Rückfragen stellt und die Fahrschüler aktiv mitmachen, ist der Zeitaufwand größer. Deswegen können nicht alle Themen aus dem Rahmenplan an einem einzigen Abend untergebracht werden – ein Teil des Stoffs kann also nicht behandelt werden. Das ist auch seit vielen Jahren bekannt, denn in der Fahrschüler-Ausbildungsordnung heißt es: „Dabei kann die exemplarische Vertiefung wichtiger sein als die inhaltliche Vollständigkeit.“ Doch genau hier kommt Blended Learning ins Spiel: Am Ende des Theorieunterrichts erläutert der Fahrlehrer, welcher Teil des Stoffs aus Zeitgründen nicht durchgenommen werden konnte und deswegen von den Fahrschülern eigenständig mithilfe des Unterrichtsmaterials – sei es ein Lehrbuch oder ein Computerprogramm – zur Ergänzung nachzuarbeiten ist. Um hierzu ein Beispiel zu nennen: Im Unterricht wird das Verhalten nach einem Verkehrsunfall behandelt. Als Aufgabe für zu Hause erhalten die Fahrschüler den Auftrag, die Besonderheiten beim Verhalten nach einem Wildunfall anhand des Lernmaterials selbst zu erarbeiten.
Die zweite Stufe des Blended Learning setzt genau hier an. Während bei der ersten Stufe zu Beginn der nächsten Theoriestunde nichts weiter geschieht, ruft der Fahrlehrer in der zweiten Stufe die Ergebnisse der eigenständigen Arbeit zur Lernzielkontrolle ab, bezieht den eigenständigen Teil also aktiv mit ein. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass die Ausbildung in geschlossenen Kursen verläuft. Denn dadurch, dass ich wieder dieselben Teilnehmer habe, kann ich mich auf die vorige Stunde beziehen. Mittlerweile wird diese Unterrichtsform von einer ganzen Reihe von Fahrschulen durchgeführt, z.B. als Blockunterricht mehrmals die Woche, bei dem eine Gruppe zusammen unterrichtet wird.
Für die dritte Stufe ist ein solches Kurssystem sogar noch zwingender erforderlich. Denn hier können die Fahrschüler nicht nur die Inhalte einer Fahrstunde nacharbeiten und vertiefen, sondern es werden zusätzlich Vorbereitungsaufgaben für die folgende Unterrichtsstunde gegeben. Auch diese eigenständige Vorbereitung kann als Lernzielkontrolle abgefragt werden – beispielsweise kann man drei Schüler auffordern, für die ganze Gruppe darzustellen, wie ein Abbiegevorgang richtig durchgeführt wird und welche Gefahren es dabei gibt.
Können Fahrschulen das Blended Learning ohne Weiteres in ihren Theorieunterricht integrieren oder muss dies erst gesetzlich fixiert werden?
Blended Learning muss gesetzlich nicht neu festgeschrieben werden, denn die vorgeschriebenen 14 Doppelstunden theoretischer Unterricht in der Fahrschule werden ja weiter durchgeführt. Der eigenständige Teil seitens der Schüler kommt hier on top, so wie früher bei den zusätzlichen Übungsbogen. Dadurch erhöht sich die Lernzeit der einzelnen Fahrschüler enorm, was ich als sehr positiv bewerte, da die Fahrschüler sich noch intensiver mit dem Lernstoff auseinandersetzen. Im Endeffekt brauchen wir keine neuen Gesetze und Vorschriften. Vielmehr lassen wir die 14 Doppelstunden, wie vorgeschrieben, und ergänzen diese durch Blended Learning in geschlossenen Kursen mit Vor- sowie Nacharbeit. Das wäre meine Idealvorstellung für einen modernen, effektiven Theorieunterricht in der Fahrschule.
Michael Fingskes - Vita
Pädagogikstudium mit Schwerpunkt Verkehrserziehung, Abschluss Diplom-Pädagoge; selbstständig tätig als Verkehrspädagoge u. a. für Deutsche Verkehrswacht, Deutscher Verkehrssicherheitsrat, Fahrlehrerverbände, Deutsche Fahrlehrer-Akademie, Länderministerien, Regierungspräsidium Köln; Erstellung von und Mitarbeit an Handbüchern/Broschüren zu verschiedenen Aspekten der Verkehrssicherheitsarbeit; Durchführung von Aus- und Fortbildungsseminaren; Erstellung eines Programms für die pädagogische Überwachung von Fahrlehrern; Prüfung neuer Fahrlehreranwärter.
Michael Fingskes hat auch das Programm „Dreiv“ mitentwickelt, das in Deutschland bisher als einziges auf Blended Learning in der Fahrschule ausgelegt ist.
www.meindreiv.de
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