30.01.2024© FahrSchulPraxis - Entnommen aus Ausgabe Januar 2024, Seite 38

Isabella Finsterwalder: UDV Studie 2023: Straßenverkehr: immer rücksichtsloser und aggressiver

Das Rowdytum auf deutschen Straßen hat einen traurigen Höhepunkt erreicht. Wie eine große Befragungsstudie der Unfallforschung der Versicherer (UDV) zur Sicherheit im Straßenverkehr 2023 zeigt, nimmt der Anteil derjenigen, die aus Aggression oder zum eigenen Vorteil andere gefährden, weiter zu. Siegfried Brockmann, Leiter der UDV, fordert dringend Kampagnen, die auf ein besseres Miteinander im Straßenverkehr abzielen. Auch die Fahrschulen seien hier gefragt.

 

Auf Deutschlands Straßen geht es immer rücksichtsloser und aggressiver zu. Das belegt die UDV Studie „Verkehrssicherheit in Deutschland 2023 – Einstellungen und Verhalten“, eine Befragungsstudie zur Sicherheit im Straßenverkehr, die seit 2010 in regelmäßigen Abständen durchgeführt wird und unter anderem in 16 Fragen die entsprechenden Einstellungen der Autofahrer ermittelt. Hierzu wurden online 2.000 Personen ab 18 Jahren zwischen 2. Juni und 2. Juli 2023 befragt. Gegenüber den Studien der Vorjahre haben sich sämtliche Werte verschlechtert. Beispielsweise gab in der aktuellen Studie rund die Hälfte der Befragten an, dass sie sich zumindest gelegentlich gleich abreagieren müssen, wenn sie sich geärgert haben. Im Jahr 2016 lag dieser Wert nur knapp halb so hoch. Immerhin jeder fünfte Autofahrer „räumt“ schon einmal die Überholspur mit der Lichthupe frei. Der Vergleichswert aus dem Jahr 2016 lag hier ebenfalls nur bei der Hälfte. Ein knappes Drittel (31 %) tritt beim Überholtwerden gelegentlich aufs Gaspedal. Fühlt sich hingegen jemand gedrängelt, tritt er kurz auf die Bremse, um den Verursacher zu ärgern (2023: 44 %; 2019: 42 %, 2016: 30 %).

 

Auch dichtes Auffahren bei notorischen Linksfahrern, damit sie die Überholspur freimachen (2023: 34 %; 2019 und 2016: je 26 %), zeugt von Rücksichtslosigkeit. Völlig gegen die Regeln verhalten sich zudem immer mehr Autofahrer, die auf der Autobahn an Fahrern, die sie nicht überholen lassen, rechts vorbeiziehen (2023: 29 %: 2019 und 2016: je 23 %). Auch die Aussage von 25 % der Befragten, dass Drängeln bei den vollen Straßen heute einfach zu ihrem Fahrstil gehöre (2023: 20 %, 2019: 12 %; 2016: 14 %), lässt tief blicken.

 

Verhalten der Verkehrsteilnehmer ist inakzeptabel

UDV Chef Siegfried Brockmann äußerte sich bei der Präsentation der Studienergebnisse entsetzt. „Aus Ärger oder zum eigenen Vorteil die Verletzung oder gar den Tod anderer in Kauf zu nehmen, ist vollkommen inakzeptabel. Alle Verantwortlichen müssen jetzt im Lichte der Ergebnisse beraten, wie sich die Situation verbessern lässt“, bringt es Brockmann auf den Punkt. Allerdings gebe es eine große Herausforderung. Laut dem UDV Chef erkenne zwar das Gros der Verkehrsteilnehmer Aggression als großes Problem an, jedoch fehle das Bewusstsein, dass sie selbst dazu beitragen.

 

Entsprechend differieren, wie bereits in den Vorjahren, Selbst- und Fremdbild der Befragten dramatisch. Beispielsweise antworten 96 % aller Autofahrer, dass sie Radfahrer mit ausreichendem Abstand überholen, gleichzeitig nehmen sie aber bei 93 % der anderen Autofahrer wahr, dass diese Radfahrer mit zu geringem Seitenabstand überholen. Die Radfahrer selbst sind mit Sicht auf ihr Selbstbild nicht viel besser. So räumen knapp 50 % der befragten Radfahrer ein, dass sie gelegentlich auf den Gehweg ausweichen, beobachten dieses Verhalten aber bei 92 % der anderen Radfahrer.

 

Verkehrskontrollen durch die Polizei

Mit Blick auf typische Risiken unserer Zeit, wie Fahren nach Cannabiskonsum und Handy-Nutzung während der Fahrt, besteht nach Ansicht von Siegfried Brockmann ebenfalls nur wenig Hoffnung auf Besserung. Zwar seien die Werte hier noch vergleichsweise gut. Allerdings zeige sich in der jüngeren Generation ein ungünstigeres Verhalten und ein deutlich geringeres Problembewusstsein. Ob letzteres mit zu geringen Verkehrskontrollen der Polizei zusammenhängt, bleibt offen. Fakt ist jedoch, dass viele der Befragten angeben, entweder noch nie oder bereits vor längerer Zeit kontrolliert worden zu sein. Konkret antworteten bei der diesjährigen Studie auf die Frage, wann sie zuletzt von der Polizei in Deutschland kontrolliert worden seien, und zwar egal aus welchem Anlass:

  • 38 % (2019: 41%) es ist schon länger her,
  • noch nie wurde nahezu jeder vierte Autofahrer (2023: 24 % oder 2019: 23 %) kontrolliert.

Gefährliches Verkehrsverhalten

Fragt man die Autofahrer nach ihrer persönlichen Meinung zu den häufigsten Gründen für Verkehrsunfälle, nennen 87 % an erster Stelle drei Fehler:

  • zu geringer Sicherheitsabstand,
  • zu schnelles Fahren und
  • aggressives Verhalten im Straßenverkehr.
  • Mit 85 % auf Rang zwei liegt „während der Fahrt das Handy in der Hand bewegen“.
  • 82 % nennen „Fahren unter Alkoholeinfluss“ als besonders gefährlichen Fehler.
  • 76 % sehen „während der Fahrt das Handy in der Halterung/Bordcomputer bedienen“ als Unfallursache.
  • 74 % erachten das Fahren unter Drogeneinfluss als gefährliches Verkehrsverhalten.
  • 66 % sagten: „das Fahren und Betreten der Fahrbahn trotz roter Ampel“,
  • 63 % „mit dem Fahrrad auf dem Fußweg fahren“ und
  • 58 % „den Radweg in falscher Richtung befahren“ seien besonders gefährliche Fehler.

Werden diese Aussagen dem tatsächlich festgestellten, oft sehr aggressiven und regelwidrigen Verhalten der Autofahrer gegenübergestellt, wird deutlich, dass die Gefahren zwar allgemein bekannt sind, zahlreiche Autofahrer sich jedoch wider besseres Wissen und Gewissen im Straßenverkehr vorsätzlich anders verhalten.

 

Mehr Frauen als Männer fordern schärfere Verkehrssicherheitsmaßnahmen

Grundsätzlich fühlt sich die Mehrheit der Verkehrsteilnehmer in Deutschland sicher oder sehr sicher im Straßenverkehr. Der Wert hat sich von 55 % im Jahr 2019 geringfügig auf 56 % erhöht. Dabei fühlen sich Männer (64 %) deutlich sicherer als Frauen (49 %). Nicht überraschend ist also, dass sich Frauen deutlich häufiger für schärfere Maßnahmen zugunsten der Verkehrssicherheit aussprechen. Beides zeigte sich auch in allen Vorgängerstudien. Bei den Maßnahmen selbst wird eine Null-Promille-Regelung mit 68 % am häufigsten gewünscht. Dieser Wert war allerdings 2019 noch um 8 % höher.

 

Für eine verpflichtende Selbstauskunft zur eigenen Fahrtauglichkeit ab 70 Jahren alle 5 Jahre sprechen sich ganze 62 % der Befragten aus, während für verpflichtende Rückmeldefahrten ab 75 Jahren immer weniger plädieren. Waren es in diesem Jahr 59 %, so lag diese Zahl 2016 noch bei 68 % und fiel 2019 auf 62 %.

 

Die Zahl der Befürworter für Tempo 30 in Städten – wie jetzt in Amsterdam im innerstädtischen Verkehr auf nahezu allen Straßen umgesetzt – ist weiter auf 41 % gestiegen. Vor 7 Jahren betrug der Prozentsatz 35 % und kletterte 2019 auf 39 %. Tempo 80 auf Landstraßen wird aktuell von 47 % der Befragten als wichtige Maßnahme zur Verbesserung der Verkehrssicherheit gesehen (2016: 41 %; 2019: 48 %). Nicht verändert gegenüber 2019 hat sich die knappe Befürwortung (53 %) von Tempo 130 auf Autobahnen. Allerdings ist diese Prozentzahl gegenüber 2016 mit 41 % deutlich gestiegen, wobei der Wert 2010 schon einmal bei ganzen 56 % lag.

 

Isabella Finsterwalder


Ergebnisse und Folgerungen der Studie auf einen Blick

  1. In Bezug auf aggressives und sicherheitskritisches Verhalten haben sich alle Werte gegenüber den Vorgängerstudien verschlechtert.
  2. Die meisten Verkehrsteilnehmer bewerten Aggression als sehr negativ.
  3. Das Bewusstsein, dass die Autofahrer selbst zu einem aggressiven Verhalten beitragen, fehlt. Selbstbild und Fremdbild unterscheiden sich deutlich.
  4. Der Anteil derjenigen, die aus Aggression oder zum eigenen Vorteil andere gefährden, nimmt weiter zu.
  5. Im Straßenverkehr fühlen sich Männer (64 %) deutlich sicherer als Frauen (49 %).
  6. Bei den Maßnahmen für mehr Sicherheit wird eine Null-Promille-Regelung für alle Autofahrer mit 68 % am häufigsten gewünscht. Im Jahr 2019 lag dieser Wert allerdings noch um 8 % darüber.
  7. Unverändert ist die knappe Befürwortung (53 %) von Tempo 130 auf Autobahnen als Maßnahme für mehr Sicherheit im Straßenverkehr.
  8. Mit Blick auf Cannabiskonsum und Autofahren sind die Werte zwar noch vergleichsweise gut. Jedoch zeigt sich in der jüngeren Generation ein ungünstigeres Verhalten und deutlich geringeres Problembewusstsein. So räumen 9 % der 18- bis 35-Jährigen ein, gelegentlich oder oft unter dem Einfluss von Cannabis (innerhalb von zwei Stunden nach Konsum) gefahren zu sein.
  9. Kontrollen durch die Polizei werden selten erlebt.
  10. Folgerungen aus der Studie: mehr Kontrollen, deutlichere Sanktionen (Punkte); Kampagnen, die auf ein besseres Miteinander abzielen; Diskussion der Verantwortlichen, wie insgesamt miteinander umgegangen werden soll.

Interview

Foto: UDV


Siegfried Brockmann, seit 2006 Leiter der Unfallforschung der Versicherer im Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft.
 

„Fahrerlehrer sollten auch die Bedeutung von Empathie und Miteinander vermitteln“

Nicht nur auf Deutschlands Straßen verhalten sich die Menschen immer rücksichtsloser und aggressiver. Überhaupt geht es auch in der Gesellschaft insgesamt ruppiger zu, sagt Siegfried Brockmann, Leiter der Unfallforschung der Versicherer (UDV). Über die Hintergründe und Einzelheiten der UDV Studie „Verkehrssicherheit in Deutschland 2023“ sprach Isabella Finsterwalder mit dem Studienleiter.

 

FPX: Ihre neueste Studie zeigt zunehmende Aggressivität im Straßenverkehr. Worauf führen Sie diese Entwicklung im Wesentlichen zurück?

 

Siegfried Brockmann: Es wird immer enger: Mehr Kfz, mehr Fahrräder, E-Bikes und E-Scooter – der Verkehrsraum wird zu Ungunsten des Kfz neu verteilt. Enge nährt Aggression, auch außerhalb des Straßenraums. Und das ist das Stichwort: In der Gesellschaft geht es insgesamt ruppiger zu.

 

Könnte beim Thema Aggressivität im Straßenverkehr möglicherweise auch das Thema Social Media eine Rolle spielen, da sich die Menschen hier zunehmend in einer virtuellen Welt bewegen und daher nicht so sehr mit dem Ursache-Wirkung-Prinzip konfrontiert werden?

 

Da weiß man nicht, was Ursache und was Wirkung ist. In den sozialen Medien haben wir vor allem in der Pandemie gut sehen können, dass andere Meinungen und Einstellungen diffamiert werden. Aber kann es nicht sein, dass die Plattformen nicht nur das zu Tage fördern, was ohnehin in uns steckt?

 

Was kann die Fahrschule bzw. was können die Fahrlehrer tun, um dem in Ihrer Studie aufgezeigten Fehlverhalten entgegenzutreten?

 

Fahrlehrer haben ja nur in einem sehr kurzen Lebensabschnitt Zugriff auf die Menschen und dann auch nur im Fahrzeug. Da wird es schwierig, sich gegen grundsätzliche Trends zu stemmen. Aber natürlich muss es ein wichtiges Anliegen bleiben, über Regelkunde und Fahrzeugbeherrschung hinaus zu vermitteln, dass es Empathie braucht und es um ein Miteinander geht.

 

Was sollte generell getan werden, um Aggressionen im Straßenverkehr und deren Auswirkungen auf die Verkehrssicherheit zu reduzieren?

 

Auf die notorischen Regelbrecher, die andere mehr oder weniger bewusst gefährden, kann man nur einwirken, indem Strafmaß und Entdeckungswahrscheinlichkeit gleichermaßen erhöht werden. Da sehe ich vor allem den Punktekatalog, weil dadurch diese Menschen über kurz oder lang ganz aus dem System genommen werden. Für alle anderen gilt: Das System Straßenverkehr kann nicht besser sein als die Gesamtgesellschaft. Da haben wir im Umgang miteinander sicher noch viel Luft nach oben, und ich bin nicht einmal sicher, ob die Richtung im Moment stimmt.

 

Was sollte konkret für ein besseres Miteinander im Straßenverkehr und damit eine geringere Aggressivität im Straßenverkehr unternommen werden?

 

Ich stelle mir gar nichts Konkretes vor, weil wir eine Forschungsinstitution sind. Der Ball liegt im Verkehrsministerium, beim Deutschen Verkehrssicherheitsrat, bei der Deutschen Verkehrswacht (DVW) und sicher auch bei den Fahrlehrerverbänden. Ich habe angeregt, dass man sich da jetzt im Lichte der Untersuchung zusammensetzt.

 

Wenn Sie den Aktivitätenkatalog der Gegenmaßnahmen priorisieren, welchen Stellenwert hat die Fahrschulausbildung in diesem Kontext?

 

Einen überschaubaren. Die Zeit, die man in der Fahrschule verbringt, reicht nicht aus, um gesellschaftliche Fehlentwicklungen oder charakterliche Defizite auszugleichen. Gleichwohl können natürlich die „Willigen“ nachhaltiger auf dem Pfad der Tugend gehalten werden.

 

Herr Brockmann, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.


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