15.10.2021

(2519) Vorfahrt gegenüber Einfädelungsstreifen

Der Fall   In dem zugrunde liegenden Fall kam es zwischen einem Pkw und einem Lkw auf einer Kraftfahrstraße in Nordrhein-Westfalen zu einem Verkehrsunfall. Der Pkw-Fahrer versuchte vom Einfädelungsstreifen nach links auf den rechten Fahrstreifen der durchgehenden Fahrbahn zu fahren, wo Stau bzw. Stop-and-go-Verkehr herrschte. Auf dem rechten Fahrstreifen der Kraftfahrstraße befand sich ein Lkw, dessen Fahrer den Pkw übersah, wodurch es zu einem Auffahrunfall kam. Der Pkw-Fahrer klagte vor dem Landgericht auf Zahlung von Schadenersatz.

Urteil 1. Instanz   Das Landgericht Essen wies die Klage ab mit Verweis auf § 18 Absatz 3 StVO (Vorfahrt des durchgehenden Verkehrs). Dagegen erhob der Pkw-Fahrer Berufung.

Urteil OLG   Das Oberlandesgericht Hamm bestätigte die Entscheidung des Landgerichts. Dem Pkw-Fahrer stehe kein Anspruch auf Schadenersatz zu. Dieser habe entgegen § 18 Absatz 3 StVO einen Vorfahrtsverstoß begangen. Der von einem Einfädelungsstreifen auf die durchgehende Fahrbahn einfahrende Verkehrsteilnehmer habe uneingeschränkt und unabhängig davon, ob Stau oder Stop-and-go-Verkehr herrsche, ein Höchstmaß an Sorgfalt zu beachten. Ereigne sich ein Unfall im Rahmen des Einfädelns vom Einfädelungsstreifen auf die Fahrbahn der Kraftfahrstraße, spreche der Beweis des ersten Anscheins für ein Verschulden des Einfahrenden. Diesen Anscheinsbeweis habe der Pkw-Fahrer nicht erschüttern können.

Dem Lkw-Fahrer sei nach Ansicht des Oberlandesgerichts kein Verkehrsverstoß anzulasten. Es sei ihm insbesondere nicht vorzuwerfen, dass er den Pkw übersehen hat. Es sei bekannt, dass die Sicht des Lkw-Fahrers von seinem Sitz aus auf das Geschehen unmittelbar vor und seitlich neben der Lkw-Front nicht nur erheblich beeinträchtigt, sondern bauartbedingt ausgeschlossen ist. Nur wenn der Lkw über einen nicht vorgeschriebenen Zusatzspiegel im Bereich der Windschutzscheibe verfüge, sei der vor dem Lkw befindliche Bereich einsehbar.

Das Oberlandesgericht lastete dem Lkw-Fahrer keine Mithaftung an. Die von dem Lkw ausgehende Betriebsgefahr sei bei der vorzunehmenden Abwägung nicht zu beachten.

Oberlandesgericht Hamm
- Beschluss vom 19.05.2020 -
Az. 9 U 23/20